Dann schwebt man in der Luft

Verkehr Unser Autor fuhr mit der Bahn von Warschau nach Minsk. Und verlor in der Nacht seine Spur

Der Bahnhof von Brest Foto: imago

BREST taz | Plong. Willkommen im Niemandsland. Plong. Eine Halle in Brest, Grenzbahnhof, fahles Licht, Ruß an den Wänden. Plong. Ein Arbeiter macht sich von außen am Zug zu schaffen, mit dem Vorschlaghammer schlägt er gegen die Radachsen. Plong. Noch fünf Stunden bis Minsk, fürs Erste ist die Nacht aber schon vorbei.

Es mag noch mehr Gründe geben, den Nachtzug von Warschau nach Minsk zu nehmen. Die alten Liegewagen sowjetischer Bauart, geräumiger als die deutschen, mit Blümchengardinen an den Fenstern. Der Samowar im Abteil der Schaffnerin, die am Morgen heißes Teewasser ausschenkt. Der Sonnenaufgang mit Blick auf Holzhütten und Birkenwälder. Das eigentliche Argument für den Nachtzug Warschau–Minsk ist aber dieser Zwischenhalt, nach Mitternacht am Bahnhof von Brest.

Das europäische Bahnnetz ist nämlich zweigeteilt. Im Westen liegen 1.435 Millimeter zwischen den Schienen, das ist die Normalspur. Im Osten, in Russland, Weißrussland und dem Baltikum ist der Abstand größer: Breitspur, 1.520 Millimeter. Ein Westzug passt nicht auf Ostgleise und ein Ostzug nicht auf Westgleise – es sei denn, er wird in Brest umgespurt.

Als „unvergessliches Spektakel“ hat Artur Klinau die Nächte am Grenzbahnhof bezeichnet. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller Weißrusslands und verfasste vor zehn Jahren eine Ode an Minsk: „Sonnenstadt der Träume“. Der Essay beginnt mit der Anreise, mit dem Nachtzug und den Arbeitern in der Brester Halle.

„Wenn Sie in den Vorraum Ihres Waggons gehen, um zu rauchen, und diesen Menschen zuschauen, ernsten Sie feindselige Blicke“, schreibt Klinau. Damit hat er recht. „Doch diese Leute sind alles andere als bösartig. Vielleicht ärgern sie sich ein wenig, dass sie zu dieser späten Stunde in einer halbdunklen, dreckigen Werkshalle mit schweren Vorschlaghämmern auf Metall schlagen“, schreibt er weiter. Damit hat er wohl auch recht.

Reisen: Nachtzüge sind umweltfreundlich – und vom Aussterben bedroht. Die taz stellt deshalb Verbindungen mit Schlaf- oder Liegewagen vor.

Gut reisen: Wir schreiben aber auch, was besser werden muss, damit Nachtzüge für mehr Menschen attraktiver werden. Gute Nacht.

Zwei Züge pro Nacht müssen die Männer abfertigen, den von Warschau nach Minsk und den von Minsk nach Warschau. Erst kommen die Vorschlaghämmer, damit lösen die Arbeiter die Radachsen vom Rest des Waggons. Dann werfen sie den Wagenheber an, der Waggon steigt nach oben und schwebt minutenlang in der Luft. Die polnischen Räder rollen weg, die russischen Räder rollen heran. Anderthalb Stunden dauert es, bis der Zug die Halle wieder verlässt.

Knapp elf Stunden dauert die Fahrt. Tickets im Netz verkauft die russische Bahn; sie betreibt die Strecke bis nach Moskau. Ein Platz im Viererabteil, inklusive Bettwäsche: 4.746,40 Rubel, rund 65 Euro. Fahrten innerhalb Weißrusslands sind billiger: Der Nachtzug von Witebsk im Norden nach Gomel im Süden kostet zehn Euro. Gardinen und Teewasser gibt es dort auch, einen Stopp zum Umspuren leider nicht. Tobias Schulze