Berliner Szenen
: An der Ampel

Alle bei Rot

„Hier in Deutschland wird bei Grün gelaufen“, ruft jetzt einer

Ich stehe an der Kreuzung und warte. Ich finde das blöd, aber die Fußgängerampel zeigt Rot, und mir gegenüber, auf der anderen Seite, steht eine Masse Menschen, die sich ebenso wenig bewegt wie ich. Kein Auto, kein Rad, kein Nichts in Sicht, und trotzdem stehen wir da und warten, starren auf Rot und heimlich auch zueinander hin. „Blöd“, denke ich. „Alle blöd hier. Ich inklusive.“

Nur einer ist dann doch nicht blöd. Er kommt von links an die Masse mir gegenüber ran, schaut sie kurz an, runzelt die Stirn, schaut dann auf die Straße – immer noch leer – und überquert sie. Einfach so.

„Cool“, denke ich. „Jetzt kann ich auch.“ Ich könnte auch so bei Rot, so ist es nicht; aber nicht als Erster, nicht heute, denn heute fühl ich mich, weiß nicht, verletzlich. Da muss ich nicht vorneweg, mich ins Scheinwerferlicht begeben. „Ey Alter!“, schreien die Leute dann womöglich. „Ist Rot!“ Dabei ist das doch fast Pflicht in Berlin, bei Rot über die Straße. Berlin wär sonst nicht Berlin.

Aber heute ist Berlin nicht Berlin; heute ist Berlin durchgeknallt. „Hier in Deutschland wird bei Grün gelaufen, mein Freund!“, ruft jetzt einer, wobei das „mein Freund“ wirklich nicht so klingt, als sei es wortwörtlich gemeint, und das „in Deutschland“ auch nicht gerade nett. „Oh je“, denke ich und laufe doch los, bei Rot, obwohl nun alle gucken: auf mich und auf den anderen – laut Schreier – undeutsch aussehenden Bei-Rot-Überquerer.

Der verdreht die Augen, zurück Richtung Schreier. Ich stimme ihm zu und dann sehe ich, dass auch andere es tun; schließlich alle: Plötzlich gehen sie los. Bei Rot. Über die Straße. Vielleicht tun sie das, weil sie nicht mehr die Ersten sind und es eh gleich Grün wird; aber vielleicht tun sie es auch wegen der Pflicht, Berlin bleibt Berlin, undeutsch und bei Rot vollkommen okay. Joey Juschka