„Es ist noch ein langer Marsch“

taz: Herr Sierakowski, was ist links in Polen?

Slawomir Sierakowski: Die Polen sehen links als etwas Schlechtes aus der Vergangenheit an. Links, das sind die Postkommunisten. Wenn Sie und ich eine linke Partei gründen wollten, jetzt und hier, die Leute würden uns für verrückt halten. Sie würden uns auslachen. Joschka Fischer wäre hier ein uninteressanter Populist.

Und Sie wollen die Linke aufbauen?

Ja, unbedingt. Aber es ist sehr schwierig. Wir brauchen feste Institutionen und Strukturen. Medien, Thinktanks, Wirtschaftsexperten. Wir folgen Gramscis Strategie: Erst erobern wir die Hegemonie in der Kultur. Deswegen sind wir in Kontakt mit Künstlern. Sie verleihen uns symbolische Macht. Danach kommt die Hegemonie in der Politik.

Wer ist „wir“?

Wir, das sind ungefähr 100 Leute, Künstler, Journalisten, Aktivisten. Wir fahren durchs Land, organisieren Treffen, geben Seminare an der Uni, publizieren in unserer Zeitschrift. Artikel für die großen Zeitungen unterschreiben wir immer mit unseren Namen und dem Titel der Zeitschrift Krytyka Polityczna, um zu zeigen, dass wir Teil einer Bewegung sind. Es ist noch ein langer Marsch für die Linke in Polen. Wir müssen eine Front gegen die unsichtbare Zensur aufbauen.

Unsichtbare Zensur?

Heute sperren sie dich nicht ein für deine Meinungen, sondern sie lachen dich aus. Sie lassen dich am Rand überleben. Es gibt nur zwei herrschende Diskurse in Polen: Den einen nenne ich den „heißen Diskurs“, der die Gefühle zu Gott, der Familie und dem Vaterland anspricht. Der „kalte Diskurs“ vermeidet Ideologien und handelt von wirtschaftlichem Liberalismus. Den dritten, den linken Diskurs, müssen wir uns erobern.

Sie haben gute Kontakte zu deutschen Wissenschaftlern.

Ja, ich habe bei Professor Ulrich Beck in München studiert. Er hat mir sehr viel beigebracht. Wir haben viel diskutiert. Er schickt mir seine Bücher und ich bespreche sie in Polen.

Neulich war Daniel Cohn-Bendit bei uns. Demnächst führe ich ein Interview mit Jürgen Habermas. Es ist in Polen so, wie Habermas geschrieben hat: Unsere Lebenswelt ist durch das System kolonisiert.

INTERVIEW: MIA RABEN