Wir haben kaum Vorräte und leben lieber vom Supermarkt in den Mund – ein Fehler
: Hamstern ist vom Aussterben bedroht

Wir retten die WeltVonBernhard Pötter

Mit einem kritischen Blick öffne ich den Küchenschrank: jede Menge Tomatensauce, zweimal Ravioli in Dosen, Instant-Nudelsuppen. Pfirsiche und Maronencreme, Mais, Senf, saure Gurken, Linsen und Kartoffelbrei. Ein klarer Fall von Vorratsdattelnspeicherung. Wozu brauchen wir vier Dosen Kichererbsen? Der Innenminister hat recht: Mit diesen Vorräten halten wir keine Woche aus. Vor allem nicht, wenn der Strom ausfällt. Wie sollen die Kinder ohne WLAN überleben?

Große Aufregung im Land: Die Bundesregierung hat in dieser Woche ein neues Zivilschutzkonzept beschlossen: Jeder Haushalt sollte für den Notfall ein paar Vorräte haben. Pro Kopf am besten 28 Liter Getränke, knapp 5 Kilogramm Brot, Nudeln oder Kartoffeln, 6 Kilo Gemüse, 4 Kilo Obst, 2 Kilo Fleisch. „Panikmache“, schimpft die Opposition, „wo soll das alles lagern?“, meckern andere. Überall Hamsterbilder, von wegen Hamsterkäufen. Und der allgemeine Tenor ist: Was soll der Quatsch? Wenn ich Nudeln brauche, gehe ich zum Späti!

Zugegeben: Wo wir für unsere fünfmägige Familie 140 Liter Wasser und 25 Kilo Nudeln lagern sollten, weiß ich auch nicht. Aber sicher ist es eine gute Idee, darüber nachzudenken, wie anfällig unsere hochkomplexen Gesellschaften geworden sind. Ohne Wasser und Strom säßen wir ganz schnell auf dem Trockenen. Dafür braucht es weder Weltkrieg noch Terroranschlag. Ein Cyberangriff oder ein böser Computervirus bei den Wasserwerken, eine kräftige Überschwemmung reichen für einen lokalen oder regionalen Notfall schon aus. 2011 nach dem Atomausstieg standen wir kurz vor einem großflächigen Blackout des Stromnetzes. Dann bekämen wir dicke Probleme.

Aber nein: Wir fühlen uns unverwundbar. Sturmflut kennen wir nur aus Bangladesch, Erdbeben nur aus Italien und Tornados nur als Kampfjets. Uns kann keiner! Naturgewalten sind scheinbar zu einer kalkulierbaren Größe geworden, daher klingen die Warnungen vor ihnen so lächerlich.

Aber der Aufschrei zeigt noch mehr: Die Erinnerung an Notfälle stört unseren konsumistischen Imperativ: Ich will Immer! Alles! Sofort! Unser Leben ist „just in time“ organisiert: Perfekte Lieferketten sorgen dafür, dass wir die Lagerhaltung nicht bei uns, sondern beim Edeka betreiben. Das „Hamstern“ von Vorräten kenne ich nur aus den Erzählungen meines Vaters aus der Nachkriegszeit. Und genauso wie die Vorratskammer ist auch „Cricetus cricetus“ verschwunden – der Feldhamster, bis vor ein paar Jahrzehnten eine Landplage für Bauern, ist in Europa vom Aussterben bedroht. Die intensive Landwirtschaft lässt ihm keine Chance. Nur der Goldhamster überlebt als Streicheltier.

Zeitlich fällt das Verschwinden der wilden Hamster mit der „just in time“-Idee zusammen: So ähnlich, wie die Population der Störche in Deutschland (zufällig!) mit der sinkenden Geburtenrate abnahm, verschwanden die Nager, als niemand mehr hamstern wollte. VW hat keine Lagerhäuser mehr, sondern hat sie in die Lastwagen ihrer Zulieferer verlagert.

Manchmal führt das zu einem selbstregulierenden System: Wenn zu viele Lkws mit Autoteilen die Autobahnen verstopfen, können nicht noch mehr Autos gebaut werden, die die Autobahnen vollstauen. Dann werden eben breitere Straßen gebaut. Und da beißt manchmal, sehr selten, Cricetus cricetus wieder zu: Wenn Umweltschützer irgendwo eine hochgradig geschützte Population von Feldhamstern finden, lassen sich damit prima neue Gewerbegebiete oder Autobahnen verhindern – auf der die Firmen dann ihre Lagerhäuser out­sourcen würden. Ein irrer Kreislauf.

Allerdings hat gerade VW diese Woche gezeigt, wie anfällig die Lieferketten sind. Passend zur Warnung des Zivilschutzkonzepts standen beim Streik der Zulieferer in den Autowerken alle Räder still. Ein bisschen Hamstern täte auch den Raubtieren aus Wolfsburg ganz gut.

Und auch in unserer Küche ist noch nicht alles verloren. Als ich das obere Fach des Schranks öffne, sehe ich unsere Vorräte an Knäckebrot und Schokolade. Damit kommen wir locker zwei Monate über die Runden.