„Nennen wir es Traum“

DOKUTHEATER Beim Rumänien-Festival im HAU ist ihr Stück „Clear History“ zu sehen. Thema: der Holocaust in Moldau. Ein Gespräch mit Nicoleta Esinencu

■ Sie wurde 2005 mit dem Stück „FUCK YOU, Eu.ro.pa“ als Enfant terrible der rumänisch-moldauischen Theaterszene bekannt. Auf Podien bockt sie gern in ihrer lakonischen Art, im Skype-Interview wirkt sie dagegen wie ein kettenrauchender Engel mit Teddyfell am Jackenkragen und verschmitztem Lächeln. Es ist bei weitem nicht nur Provokation, was die EU- und Gesellschaftskritikerin zu bieten hat. Seit 2010 leitet sie ohne jegliche Subventionen das Teatru Spalatorie in Chisinau.

■ Mit ihrem neuen, eher an Peter Weiss als an Rimini-Protokoll angelehnten Dokumentartheater „Clear History“ über den Holocaust auf dem Gebiet der Republik Moldau nimmt sie mit ihrem Team am Rumänien-Festival „Many Years After“ im HAU (13.–16. Dezember) teil. Info: www.hebbel-am-ufer.de

INTERVIEW ASTRID KAMINSKI

taz: Frau Esinencu, vor viereinhalb Jahren haben Sie schon einmal ein Interview für die taz gegeben. Auf die Frage, was in den nächsten fünf Jahren in Moldau passieren werde, antworteten Sie: „Nichts, nur die Dummheit und die Gewalt werden weiter zunehmen.“ Hat sich Ihre Prognose bewahrheitet?

Nicoleta Esinencu: Ja, es wird schlimmer und schlimmer. Nur schneller als gedacht.

Der Hauptjob Ihrer Politiker sei es, Schulen zu schließen und Kirchen zu öffnen, sagten Sie im September auf dem Internationalen Literaturfestival. Außerdem sprachen Sie von den vielen Selbstmorden von Kindern, deren Eltern im Ausland arbeiten. Wofür beten die Leute? Für die Kinder?

Für ihre Nachbarn.

Für ihre Nachbarn?

Ja, wir tun alles für unsere Nachbarn. Alles, was in dieser Gesellschaft passiert, ist für unsere Nachbarn bestimmt. Es geht darum, zu zeigen, dass wir gut, gebildet, christlich und wohlhabend sind, obwohl wir natürlich nichts von alledem sind.

Ich würde Ihren früheren Stücken, Ihrer Neigung zur verbalen Provokation eine Nähe zum englischen In-yer-face-theatre zuschreiben. Ihr neues Stück „Clear History“ über den Holocaust auf dem Gebiet der heutigen Republik Moldau ist dagegen aus dokumentarischen Elementen zusammengesetzt.

Das hat mit dem Thema zu tun. Zunächst einmal ist es dem Fehlen von Dokumenten geschuldet. Dem Fehlen von Dokumenten in unseren Geschichtsbüchern, dem Fehlen von nachprüfbaren Fakten, dem Fehlen von Schuldeingeständnissen. Darum arbeitet unser Stück mit Dokumenten, die ganz andere Seiten der Städte und Orte zeigen, in denen wir in unserer Kindheit gespielt haben und die wir auch heute täglich betreten.

Sie zitieren historische Persönlichkeiten wie den für den Völkermord mitverantwortlichen ehemaligen rumänischen Außenminister Mihai Antonescu. Aber für Zeugenaussagen von Überlebenden und anderen Betroffenen geben Sie keine Quellen an.

Die meisten dieser Aussagen sind persönlich und überpersönlich zugleich. Es sind die Geschichten von Zehntausenden von Menschen. Außerdem haben die meisten der überlebenden Zeitzeugen immer noch Angst. Sie haben nie die Möglichkeit gehabt, über diese Dinge zu sprechen. In der Sowjetunion nicht und danach auch nicht, weil erst einmal eine Pro-Antonescu-Periode eingesetzt hat. Es war sehr schwierig, die Menschen davon zu überzeugen, zu sprechen. Danach haben es einige trotzdem nicht erlaubt, ihre Aussagen zu veröffentlichen. Manchen sitzt die Angst, „zurückgebracht zu werden,“ noch sehr stark in den Knochen.

Im Stück sprechen Menschen, die sich lebend aus einem Massengrab gerettet haben, andere, die als Kinder grausamste Massaker mit angesehen haben. Waren Sie auf all diese unfasslichen Dinge vorbereitet?

Und das ist nicht das Schlimmste, was wir an Zeugnissen versammelt haben. Wir haben viele Dinge gehört, die so verstörend sind, dass ich sie nicht ins Stück aufnehmen wollte und konnte. Auch wegen des Publikums nicht. Wir wollen es nicht zu sehr unter Schock setzen. Wir wollen ein Gespräch herstellen.

Wie waren die Reaktionen in Moldau?

Wir würden das Stück gern an Schulen spielen, aber bislang konnten wir es nur in unserem Theater spielen. Seltsam waren die Reaktionen des jüngeren Publikums. Sie waren geschockt, dass das alles passiert ist, verteidigten aber Antonescu [Ion Antonescu, rumänischer Staatsführer 1940–44, Anm. AK] als wichtigen Mann unserer Geschichte. Schließlich hatte Antonescu Rumänien und Moldau vereinigt, da war es egal, mit welchen Mitteln.

Sie zeigen „Clear History“ in Deutschland, wo der Stand der Geschichtsaufarbeitung ein anderer ist. Macht das einen Unterschied?

Wenn man schaut, was heute in Europa passiert, glaube ich, dass wir das Stück überall spielen müssen.

In der Zeit, die das Stück spiegelt, gehörte Moldau zu Rumänien. Ist dort die Aufarbeitung in Ihren Augen weiter?

Offiziell wurde der Holocaust dort anerkannt und verurteilt. Das hat es in Moldau nie gegeben. Aber auch in Rumänien ist das eine Sache auf dem Papier. Eine gesellschaftliche Diskussion hat dort in meinen Augen nicht stattgefunden.

Hat sich durch die EU-Mitgliedschaft Rumäniens darüber hinaus für Sie als rumänischsprachige moldauische Künstlerin etwas geändert?

Nein, nur als Bürgerin. Ich muss jetzt Tausende von Visaformalitäten erfüllen, wenn ich nach Rumänien will.

Was hält Sie in Moldau?

Mein Team. Unser Theater. Unsere Arbeit, die Diskussionen, die wir führen. Um es kurz zu machen – nennen wir es: Traum.

Übersetzung der Antworten aus dem Rumänischen ins Englische: Nora Dorogan