LeserInnenbriefe
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Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

„Stech ihm die Finger in die Augen“

betr.: „Gina-Lisa Lohfink kündigt Berufung an“, taz vom 24. 8. 16

Gina-Lisa Lohfink wurde zu 80 Tagessätzen à 250 Euro wegen falscher Verdächtigung verurteilt. Es habe sich um einvernehmlichen Sex gehandelt, Frau Lohfink habe sich die Vergewaltigung ausgedacht, denn im Video der Tatnacht sei keine Gegenwehr zu erkennen, ihr „Hör auf“ habe sich nicht auf den Geschlechtsverkehr bezogen – so lautet die Argumentation der Richterin.

Meine Mutter wurde im Jahr 1952 geboren. Sie erinnert sich, als sie 14 war, hörte sie den Vater, der aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekommen war, sagen: „Wenn dir ein Mann zu nah kommt, dann steche ihm deine Finger in die Augen.“ Diese Vorstellung machte meine Mutter damals etwas traurig.

Mein Großvater aber hatte im Krieg gesehen, wie deutsche Soldaten die Frauen des Gegners misshandelten und wie ebendiese Soldaten nach dem Krieg als edle Männer in angesehene Positionen zurückgekehrt waren.

Mir brachte meine Mutter bei, ich solle einem Mann die Nase ins Gehirn schlagen, die Ohren abreißen, die Augen einstechen, die Zunge oder den Penis abbeißen oder ihm die Eier abreißen, um mich gegen einen körperlichen Übergriff zu wehren.

Mit sieben besuchte ich meinen ersten Selbstverteidigungskurs. Danach hatte ich so große Angst vor Männern, dass ich, wenn mir einer auf dem Schulweg begegnete, vor Panik die Straßenseite wechseln musste.

Mit 17 versuchte ein Mann mich zu vergewaltigen. Es waren nicht die Tricks meiner Mutter, die mich schützten – und es war auch nicht mein deutliches Nein. Er entschied sich plötzlich dagegen, mich zu vergewaltigen. Es lag allein in seiner Gewalt.

Was es so schwer macht, sich zu wehren, ist das vertrauensvolle Verhältnis, das oft den Vergewaltiger – als Freund, Ehemann, Verwandten, Bekanntschaft oder Kollegen – und das Opfer verbindet. Warum macht er das? Ich sage nein. Er hört mich nicht. Ich befinde mich in einer Grauzone zwischen Vertrautheit und Gewalt. Später wird es heißen, ich habe ihm einladende Signale gesendet. Mir erklären Polizistinnen und Polizisten, sie hätten sich in einer solchen Situation ganz anders verhalten. Es sei dumm von mir gewesen, ihm zu vertrauen. Wenn es zu einer Anzeige kommt, wird das Verfahren eingestellt.

Ich merke, dass mich das Gesetz nicht schützt, denn es ist von weißen Männern für weiße Männer geschrieben. Vor diesem Gesetz sind alle weißen Männer gleich. Dieses Gesetz berücksichtigt keine sexistischen Machtstrukturen, denn Frauen gibt es darin gar nicht.

Selbstverteidigung ist sinnvoll. Wir müssen unsere Sinne schärfen, unsere Grenzen kennen und sie anderen deutlich machen. Aber Selbstverteidigung darf nicht gegen uns verwendet werden. Die Verantwortung für eine Vergewaltigung liegt niemals beim Opfer, sondern beim Vergewaltiger. Name ist der Redaktion bekannt

Peinliche Ignoranz

betr.: Der Tod eines DDR-Historikers

Hallo tazler, ist euch in eurem grünen Ententeich entgangen, dass auch die DDR über renommierte Historiker verfügt hat? Am 18. 8. 2016 ist Kurt Pätzold verstorben, dessen Forschungen zum deutschen Faschismus auch für taz-Redakteure einen Zugewinn an Kenntnissen bedeuten würden. Bis heute ist zu diesem Todesfall bei euch noch kein Nachruf erschienen. Eure Ignoranz ist peinlich, vor allem da ihr euch bemüßigt gesehen habt, einen rechten Nolte mit ausführlichem Gedenken zu ehren.

Helene Holm, Stuttgart

Eine charmante Idee

betr.: „Akzeptanz von Polygamie“, taz vom 23. 8. 16

Polygamie, die, wie Isolde Charim schrieb, von Hamza Piccardo gefordert wird, ist doch an sich nicht grundsätzlich abzulehnen. Die Übersetzung aus dem Griechischen lautet „Vielehe“, und zwar im Hinblick auf den Menschen im Allgemeinen! Sie ist nicht zu verwechseln mit Polygynie (Vielfrauerei) oder Polyandrie (Vielmännerei). Die Idee, dass eine Frau mit vier Männern gleichzeitig verheiratet sein könne, ist doch charmant. Damit ließe sich vielleicht auch das Problem der Überbelastung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf leichter beheben.

KIEFER SCHMIDT, Saarbrücken

Europa der Entrechteten

betr.: „Die Insel der großen Ideen“, taz vom 23. 8. 16

Schön, euer Artikel über europäische Föderalisten in der Verbannung auf der Insel Ventotene. Schön auch, dass sich die „Großen“ des heutigen Europas dort treffen und vielleicht bei dieser Gelegenheit ihrer großen Vorfahren gedenken.

Nicht ganz unangebracht wäre es in diesem Zusammenhang, an das zweite Bein der europäischen Utopie im Jahre 1943 zu erinnern. Denn sehr wohl könnte das nächste Gedenktreffen in Berlin stattfinden. Dort hat nämlich Robert Havemann (ja, der schon!) mit wenigen Genossen aus Deutschland und den besetzten Ländern die tolldreiste Idee gehabt, im Untergrund eine „Europäische Union“ zu gründen (so heißt auch die illegale Zeitung, die wenige Nummern erlebte; ein Faksimile ist in der Ausstellung „Topographie des Terrors“ in Berlin zu sehen). Es sollte ein neues, geeintes Europa geschaffen werden, aus der puren Kraft von 12 Millionen Zwangsarbeitern im Dritten Reich, die dort die europäische Solidarität lebten und den Megalostaat von innen zum Sturz bringen würden.

Dieses Heer der Entrechteten als ein weiterer Pate für unser Europa, auch nicht schlecht und zum Hinterfragen geeignet.

Jean-Paul Barbe, Nantes/Berlin