Worüber man in der UdSSR nicht sprach

Buch Anna Galkinas Debütroman „Das kalte Licht der fernen Sterne“ über den sowjetischen Alltag

Ein Eimer ist eine sehr nützliche Sache. Besonders in der Sowjetunion ist er unentbehrlich. Weil man in einem Haus ohne Wasseranschluss wohnt. Mit dem Eimer transportiert man das Wasser vom Pumpbrunnen nach Hause. Er ist Waschbecken und Dusche in einem, anschließend dann Putzeimer. Im Winter wird der Eimer noch wichtiger. Schließlich will niemand durch die Kälte zum Plumpsklo laufen. Also wird der Eimer zum Toilettenersatz, wahlweise auch zum Müll- oder Würgeimer. Alles kommt in ein und denselben Eimer. Denn Eimer sind zwar lebensnotwendig, aber vor allem – wie so vieles in der Sowjetunion – Mangelware.

Tragisches und Komisches vermischen sich in Anna Galkinas Debütroman „Das kalte Licht der fernen Sterne“ über den sowjetischen Alltag. Wie ihre Protagonistin Nastja wurde Galkina in der Endphase der Sowjetunion groß. „Worüber man nicht spricht“ wollte sie ihren ersten Roman eigentlich nennen. Denn unter der ideologischen Führung gab es so einige Tabus: Gewalt, Sex, Alkoholismus, oft kombiniert. Galkina spricht all das an, was unter der langsam bröckelnden Fassade des verklärenden Sozialismus schlummerte.

Es beginnt mit einem Hauch Nostalgie: Nastja kehrt nach 20 Jahren in das Städtchen ihrer Kindheit am Moskauer Stadtrand zurück. Riesige Leninstatuen begrüßen die Reisenden am Bahnhof. Es werden Wodka und geröstete Sonnenblumenkerne verkauft. Großmütterchen verteilen vor der anliegenden Kirche Kopftücher. In manchen Ecken Russlands scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

Galkinas Debüt ist ein Bündel von lose zusammenhängenden Episoden. Teils nur zwei Seiten lange Erinnerungsfetzen stehen auch allein. Galkina erzählt sie in nüchternem Ton, denn die Szenen sprechen für sich. Die Menschen im Dorf gehen hart miteinander um. So droht Nastjas Mutter ihrer gerade einmal sechsjährigen Tochter damit, sie in eine Strafanstalt zu stecken, wenn sie nicht artig ist. Im Kindergarten gehören Schläge dazu, ganz egal, ob man artig war oder nicht. Das bereitet auf das harte Leben später vor. Sanftmütig ist allein die Oma, die immer wieder zwischen ihrer Tochter und Enkelin schlichten muss.

Nastja hat Glück

Nastjas Vater ist unbekannt. Männer sind sowieso entweder verschwunden oder besoffen und übergriffig. Nicht mal dem Pfarrer kann man trauen. Vergewaltigungen sind nichts Ungewöhnliches. Galkina schont den Lesern nicht mit den abstoßenden Details. All das gehört hier nun mal zur Realität. Nastja hat Glück und entkommt dem lüsternen Opa ihrer Freundin oder dem Kollegen in der Brotfabrik. Für ihre Freundinnen Dina, Oksana und Lena, genannt die „Schlampen“, sind Abtreibungen völlig normal. Dina versucht ihr Ungeborenes mit Lorbeer zu vergiften. Arztbesuche sind teuer.

Nastja bewahrt sich bis zum Schluss ihren unschuldigen, distanzierten Blick, durch den sie sich dieser Hoffnungslosigkeit entzieht. Aus angewiderter Neugier trifft sie sich aber weiter mit den Mädchen und muss bald selbst ein Kind abtreiben. Der Vater ist Dima, ein ukrainischer Soldat, der nach Thomas Anders Nastjas erste Liebe wird. Doch Dima muss zurück zur Armee. Politische Zwänge, denen sich in dieser Zeit niemand entziehen kann.

Zwischen der kühl beschriebenen Alltagshärte lässt Galkina immer wieder kurze Sehnsuchtsmomente aufblitzen. Dann muss man zugreifen. So entscheidet sich Nastjas Mutter für den einfach gestrickten Robert aus Riga, den sie über eine Partnervermittlung kennenlernt. Erst bleibt sie aus Mitleid, später heiratet sie ihn sogar. Er ist – anders als die übrigen versoffenen Männer der Gegend – ihre Chance auf ein bisschen Geborgenheit. Die Familie zieht zu ihm ins mittlerweile wieder unabhängige Lettland. Robert hat dort ein Haus mit Wasseranschluss, sogar ein richtiges Klo. Da braucht man keine ­Eimer mehr. Nina Monecke

Anna Galkina: „Das kalte Licht der fernen Sterne“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2016, 218 Seiten, 19,99 Euro