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: Am tiefsten Grund der Realität liegt das Imaginierte

Joshua Oppenheimer: „Early Works. A Collection of 12 Films“ (UK 2016)

DokumentarfilmerInnen können in die Wirklichkeit, die sie dokumentieren, nicht nicht intervenieren. Allerdings ist das Spektrum möglicher Interventionen weit. Am einen Ende des Spektrums bekommt das Sensory Ethnography Lab seit einigen Jahren viel Aufmerksamkeit: eine an der Universität Harvard beheimatete Gruppe, die ihre Arbeit ebenso von der Ethnografie herschreibt wie von Formen des künstlerischen Dokumentarfilms, die auf Eingriff ins Dokumentierte ebenso wie auf die Zurichtung des Materials (durch Kommentar etc.) möglichst verzichtet.

„Leviathan“ von 2012, das berühmteste, im Kino wie im Kunstbereich erfolgreiche Werk von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel, taucht in die Realität des Fischfangs mit Kleinstkameras, die an Körpern, Gegenständen und Fischen befestigt sind und verschafft dem Betrachter so ein desorientierendes und zugleich immersives Bild-und-Sound-Erlebnis.

An einem ganz anderen Ende ist Joshua Oppenheimer zugange. Interessanterweise hat auch er, nach einem Studium der Physik, in Harvard mit dem Filmemachen begonnen. Robert Gardner, Ethnograf, Professor in Harvard und Dokumentarfilmerlegende, taucht im Abspann von Oppenheimers frühen Filmen auf, ist zugleich aber ein wichtiger Einfluss für die FilmemacherInnen des Sensory Ethnography Lab. Die frühen Filme Oppenheimers sind jetzt auf einer DVD erschienen – nach seinem riesigen Erfolg mit der Dokumentation „The Act of Killing“ (wie „Leviathan“ von 2012) und ihrem Gegenstück „The Look of Silence“ (2014) ist das Interesse an dem zuvor wenig bekannten Regisseur groß. Die beiden Filme wurden auf Festivals gefeiert und mit Preisen sowie begeisterten Kritiken überhäuft.

In beiden Filmen geht es um die hunderttausendfachen Morde, die in Indonesien nach der Machtübernahme der rechten Regierung Suharto an Kommunisten und Regierungsgegnern begangen wurden. Oppenheimers Filme nähern sich dem in Indonesien bis heute weitgehend unaufgearbeiteten Geschehen von zwei Seiten, der der Täter (in „The Act of Killing“) und der der Opfer (in „Look of Silence“). Besonders die große Nähe, die er im ersten der beiden Filme zu einem der brutalsten Schlächter, einem Mann namens Anwar, herstellt, hat viele Betrachter verstört. Hinzu kommen Szenen, die die Dokumentation durch verschiedene Formen des Reenactments und sogar durch fast Bollywood-artige Song-and-Dance-Sequenzen durchbrechen.

Oppenheimers frühe Filme sind durchweg für sich interessant; sie sind aber auch lehrreich, weil sie die Skepsis des Regisseurs gegenüber der bloß beobachtenden Dokumentation von Anfang an sehr deutlich zeigen. „The Entire History of the Louisiana Purchase“, sein Harvard-Abschlussfilm von 1997, ist eine surreale Collage von Pseudodokumaterial, Talking Heads, Archivbildern, amerikanischer Paranoia und der wüsten Geschichte einer Frau, die ihr Baby in einer ­Mikrowelle getötet hat. Die Grenze zwischen Realem und Fiktion wird dabei komplett verwischt.

Mit „The Globalisation Tapes“ (2003) nähert sich der Regisseur dann den Filmen, die ihn berühmt machen sollten: In Kooperation mit einer Arbeitergewerkschaft dokumentiert er verheerende Folgen der Globalisierung in Indonesien, mixt das dokumentarische Material aber mit Archivbildern und verfremdender Musik. Am tiefsten Grund der Realität, so Oppenheimers These, liegt nicht das Sichtbare, sondern das Imaginierte. Wer Fantasien dokumentieren will, muss freilich Formen des Dokumentarischen (er)finden, die über bloßes Beobachten weit hinausgehen. Der Weg dieser Erfindung lässt sich auf dieser DVD bestens verfolgen. Ekkehard Knörer

Die DVD ist als Import aus Großbritannien ab rund 11 Euro im Handel