Raus aus der Komfortzone

BeachvolleyballDie brasilianischen Teams sollen nach 12-jähriger Flaute endlich wieder eine Goldmedaille gewinnen. Die Bedingungen haben sich nach dem Kollaps eines korrupten Fördersystems deutlich gebessert

Tagestipp von Jaris Lanzendörfer: Mittwoch, 21 Uhr, Fußball, Deutschland – Fidschi: Die DFB-Auswahl steht unter Druck. Für ein sicheres Weiterkommen braucht es einen Sieg mit fünf Toren Unterschied – ausgerechnet gegen die Fidschi

Aus Rio Markus Völker

Die Spiele am Strand von Copa­ca­bana beginnen früh, um 10 Uhr am Vormittag. Auch das brasilianische Duo Talita Antunes da Rocha und Larissa França Maestrini muss früh ran. Für die Spielerinnen ist das kein Problem. Eskortiert von einem Dutzend Betreuern, betreten sie mit schweißglänzenden Körpern die Beachvolleyball-Arena am berühmtesten Strand von Brasilien. Vor dem Stadion aber hat sich eine lange Schlange am Einlass gebildet. Sie ist fast einen Kilometer lang. Hunderte Fans stehen hier in der prallen Sonne und warten geduldig, dass sie endlich durch das Nadelöhr der Sicherheitsschleuse hindurch kommen.

Wer sich ganz hinten anstellt, wartet eine Stunde oder länger, weswegen auch bei der ersten Angabe der brasilianischen Medaillenfavoritinnen viele Plätze in der Arena leer sind, mindestens die Hälfte. Obwohl bis auf zwei Tage in der Vorrunde angeblich alle Karten verkauft worden sind, bleiben viele Plätze unbesetzt, dabei war zu erwarten, dass die Bachvolleyball-Schüssel die ganze Zeit überkocht vor Begeisterung. Die Rahmenbedingungen sind nicht übel: Sonne, Strand, Brasi-Feeling und Samba-Sound. Aber das ewige Warten am Einlass wirkt ein bisschen abtörnend.

Von den oberen Rängen schaut man auf das Blau des Atlantiks und am Montag auch auf ein Kriegsschiff, unten duellieren sich Talita und Larissa mit den Russinnen Jewgenia Ukolowa und Jekaterina Birlowa. Im Vergleich zur Weltserie verzichtet man beim olympischen Turnier auf Cheerleader im knappen Bikini. Außerdem ist das Stadion angenehm werbefrei. Die Brasilianerinnen fertigen die Russinnen schnell in zwei Sätzen ab. Sie schlagen fünf Asse, setzen ebenso viele Blocks. Das reicht. Nach 36 Minuten ist Schluss. Die Russinnen hatten tatsächlich gedacht, die Brasi­lia­nerinnen schlagen zu können. „Aber sie waren dann doch zu stark“, bekennt Ukolowa.

Frage des Anstands

Die Journalisten stehen im Pulk vor ihr, und Olympia-Pressemann Alessandro de Franzoni wirft immer auch einen Blick auf das Schuhwerk der Schreiberlinge, denn Flipflops sind im Pressebereich eigentlich nicht erwünscht. Ein Schild haben sie aufgehängt mit dem Hinweis: „Flipflops und Sandalen sind nicht erlaubt im Medien­bereich.“ Das ist eine, um es vorsichtig auszudrücken, merkwürdige Anweisung beim Easy-Going-Sport Beachvolleyball. De Franzoni sagt, das sei eine Sache des Anstands und der Sicherheit, weil es hier so steile und wackelige Treppen gebe. „Aber wir werfen niemanden raus, der dann doch Flipflops trägt.“ Puh, noch mal Glück gehabt.

„Wir sind ­momentan alle sehr unsicher. Wir machen uns Sorgen um ­unsere Familien und wissen nicht, wie es ­weitergeht“

Alison Cerutti, brasilianiScher Beachvolleyballer und Weltmeister

Larissa tritt mit einer diamantenbesetzten Halskette mit Herz und mit Ohrringen vor die Presse, und obwohl sie in dem globalen Funsport schon lange mitmischt und viel gewonnen hat, zum Beispiel Bronze bei den Spielen von London, braucht sie eine Übersetzerin für Fragen in Englisch. Sie sagt, dass sie den besonderen olympischen Moment spüre und dass es keinen besseren Ort für Beachvolleyball gebe als die Copacabana. Der Druck sei da, Brasilien erwartet von ihnen eine Medaille, aber das sei schon in Ordnung. Ihre Stimmung ist jedenfalls gut. Nachdem die Journalisten aufgehört haben, ihr Aufnahmegeräte vor die Nase zu halten, funktioniert ein brasilianischer Betreuer eine Cola-Flasche zum Mikrofon um, und Larissa gibt gestenreich ein Nonsense-Interview.

Sie ist eine Ikone dieses Sports in Brasilien. Es hat ihr auch nicht geschadet, dass sie sich 2013 als lesbisch geoutet hat. Im Gegenteil. Nur einen Monat nach diesem Bekenntnis, das in der Szene niemanden überrascht hat, hat sie ihre Partnerin Liliane Maestrini geheiratet, beide im opulenten weißen Kleid. Liliane ist auch Beachvolleyballspielerin, 2007 ist sie Juniorenweltmeisterin geworden.

Brasilien schickt in Rio vier Teams in den Kampf um die Medaillen. Mit Alison Cerutti/Bruno Oscar Schmidt und Pedro Solberg/Evandro Goncalves Oliveira Júnior bei den Männern sowie Larissa/Talita und den Weltmeisterinnen Ágatha Bednarczuk/Bárbara Seixas de Freitas sollen mindestens zwei Plaketten her. Aber das wird schwer. Denn beide brasilianischen Männerteams haben bereits eine Niederlage kassiert, gegen Österreich (Doppler/Horst) und Kuba (Sergio/Nivaldo). „Man erwartet immer einen Sieg von uns“, sagt Bruno Schmidt, der amtierende Weltmeister. Manchmal helfen aber auch nicht die Buhrufe der Zuschauer, mit denen sie die Österreicher und Kubaner bei den Angaben stören wollten.

Seit 2004 hat Brasilien keine olympische Goldmedaille mehr im Beachvolleyball gewonnen. In Peking und London verloren die Duos jeweils im Finale, 2012 scheiterte Alison mit Emanuel Rego an den Deutschen Julius Brink und Jonas Reckermann. Bei der Weltmeisterschaft im Vorjahr in den Niederlanden aber waren die Brasilianer so gut wie noch nie. Die Teams gewannen fünf von sechs möglichen Medaillen, was die Erwartungshaltung nun ins Unermessliche gesteigert hat.

Die missliche soziale Situation im Land lässt allerdings auch diesen Nationalsport nicht unberührt. „Die Lage in Brasilien ist momentan sehr angespannt aufgrund der großen politischen und wirtschaftlichen Probleme“, sagt Alison. „Wir sind momentan alle sehr unsicher. Wir machen uns Sorgen um unsere Familien und wissen nicht, wie es weitergehen wird.“ Oscar Schmidt wird noch deutlicher: „Wir befinden uns in einem stetigen Abwärtstrend. Viele Menschen sind arbeitslos und kämpfen ums nackte Überleben. In dieser Situation kommerzielle Großereignisse wie die Fußball-WM und gleich im Anschluss Olympia ins Land zu holen, das stößt natürlich bei sehr vielen auf Unverständnis und Ablehnung.“

Vor und nach ihrem Outing als Lesbe eine geschätzte Ikone des brasilianischen Beachvolleyballs: Larissa França Maestrini im Anflug Foto: Antonio Lacerda/dpa

„Totalitäres Regime“

Die Beachvolleyballer wurden vom Verband freilich nach allen Regeln der Kunst versorgt, ihnen fehlt es auch in diesen Tagen an nichts. Bis vor zwei Jahren wurden alle Spieler im Volleyball-Leistungszentrum Saquarema, 80 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt, zusammengezogen. Es herrschte ein strenges Regime. Gesponsert wurde das Volleyball-Unternehmen von der Banco do Brasil, mit bis zu 20 Millionen Euro im Jahr. Von diesem Deal profitierten nicht nur die Athleten, sondern auch der ehemalige Präsident des nationalen Verbandes, Ari Graça, zog seinen Vorteil daraus.

Graça, der noch immer amtierender Präsident des internationalen Volleyballverbandes FIVB ist, hatte bei der Verlängerung des Vertrags mit der Banco do Brasil in die eigene Tasche gewirtschaftet. Wie das Magazin Volleyball berichtete, habe der Funktionär „über zwischengeschaltete und von Freunden geleitete Agenturen Provisionen in Millionenhöhe kassiert“. Graça musste als brasilianischer Verbandschef zurücktreten. Daraufhin kollabierte das zentralistische System der Förderung, was für die Klassenspieler aber gar nicht so schlecht war. Sie seien endlich aus ihrer Komfortzone herausgekommen, sagen Kenner der Szene. Viele brasilianische Volleyballspieler atmeten regelrecht auf. Der WM-Zweite von 2009, Harley Marquez, sagte in einem Interview, er sei froh, einem „totalitären Regime“ entkommen zu sein.