Die Angst vorm dritten Geschlecht

Intersexualität Geschlechtstests wird es in Rio nicht geben. Die Läuferinnen Caster Semenya und Dutee Chand werden in der Leichtathletik starten. Aber Gerüchte und Anfeindungen sind so stark wie nie zuvor

Favoritin über 800 Meter der Frauen – und genau deswegen angefeindet: Caster Semenya aus Südafrika Foto: Olivier Morin/afp

AUS RIO DE JANEIRO MARKUS VÖLKER

Paula Radcliffe, die große britische Läuferin, sorgt sich um den Ruf der Leichtathletik. Sie hat Angst, die Chancengleichheit könnte verloren gehen auf der Tartanbahn, denn in Rio de Janeiro wird es keine Geschlechtstests mehr geben. Es ist auch nicht mehr von Belang, wie viel vom männlichen Sexualhormon Testosteron im Körper einer Athletin zirkuliert.

Für Radcliffe sind das verstörende Aussichten auf die Sommerspiele. „Wenn wir davon ausgehen müssen, dass niemand anderes als Caster Semenya den 800-Meter-Lauf gewinnt, dann hat das nichts mehr mit Sport zu tun“, hat sie der Daily Mailgesagt.

Radcliffe hält den Marathon-Weltrekord, sie ist die Strecke von 42,195 Kilometern in 2:15,25 Stunden gerannt. In den sozialen Netzwerken wurde Radcliffe nach Veröffentlichung des Zeitungsartikels heftig angegangen, aber, wie die 42-Jährige selbst sagt: Der Fall ist kompliziert. Und Radcliffe ist keine Dumme, sie spricht fließend Deutsch und Französisch, und ihr Studium der Europawissenschaften schloss sie mit Auszeichnung ab.

Es geht um die Frage, wann eine Frau eine Frau ist und darum, ob nicht schon diese Frage unsinnig ist? Es geht um Hormone, Chromosomen, Selbstbilder und Zuschreibungen, letztlich um eine kleine Welt der Vielgestaltigkeit inmitten einer großen Welt der vermeintlich klaren Verhältnisse. Jeder Schüler weiß irgendwann, dass Menschen 46 Chromosomen haben, bei Frauen sind zwei davon X-Chromosomen, Männer haben dagegen ein X- und ein Y-Chromosom. Was aber ist mit Menschen, die drei X-Chromosomen haben oder nur ein X-Chromosom ohne das Y?

Aber es wird noch verwirrender: Wie geht der von männlichen Funktionären dominierte Leistungssport mit seltenen körperlichen Phänomenen um, zum Beispiel mit dem so genannten Androgen-Rezeptor-Defekt, bei dem ein Fötus mit XY-Chromosomen Hoden entwickelt, die aber meist im Körperinneren versteckt sind. Weil die Rezeptoren für Testosteron fehlen, entwickelt das Kind ein „weibliches“ Genital.

Und was ist, wenn ein Swyer-Syndrom diagnostiziert wurde? Der Chromosomensatz ist männlich, aber aufgrund des Fehlens eines bestimmten Gens wurden ein Uterus und eine Vagina ausgebildet. Und wie soll der Internationale Leichtathletikverband (IAAF) mit Menschen umgehen, die unter einem 5-Alpha-Reduktase-Mangel, nun ja, leiden? Bei ihnen entwickelt der Körper erst ab der Pubertät eine ausreichende Menge an einem Hormon (Dihydrotestosteron), um ein männliches Genital auszubilden und sich zum Mann zu entwickeln. Puh. Ganz schön knifflig.

Caster Semenya kommt aus einer ärmlichen Gegend im Nordosten von Südafrika. Ihr Trainer Phineas Sako hat einem Journalisten des New Yorker einmal in den Block diktiert: „Ich habe sie immer mit den Jungs trainieren lassen, denn für die Mädchen war sie zu stark. Sie hat wie ein Junge ausgesehen, aber als ihr Trainer würde ich sagen: Sie ist eine Frau.“

Im Jahr 2008 bei den Commonwealth-Jugendspielen im indischen Pune sprintete sie die zwei Stadionrunden in 2:04 Minuten. Dann geschah etwas Unglaubliches. Bei der Afrika-Leichtathletikmeisterschaft der Junioren verbesserte sie ihre 800-Meter-Zeit um über sieben Sekunden, auf 1:56,72 Minute. Südafrikanischer Rekord. Nur noch gut drei Sekunden weg vom schier unglaublichen Weltrekord der tschechischen Muskelmaschine Jarmila Kratochvílová.

Das Rumoren begann. Gerüchte machten die Runde. Wer ist diese Caster Semenya? Andere fragten: Was ist diese Caster Semenya? Funktionäre versuchten, ein Phänomen zu beherrschen, das nicht zu beherrschen ist. Und dann kam die WM in Berlin, vor sieben Jahren. Die Läuferin zeigte ihr Können erstmals vor der Weltöffentlichkeit. Und die war gnadenlos zu ihr. Schon nach ihrem Halbfinallauf wurde sie von einem Fernsehreporter attackiert: „Ich habe gehört, sie sind ein Mann!?“ ­Semenya antwortete tapfer: „Ich gebe einen Scheiß darauf.“

Danach musste sie wieder die Hosen zum Test runterlassen, auf Geheiß des Weltverbandes. Fleischbeschau, Blutuntersuchung, Hormonstatus, Ultraschall, das ganze Programm. Ihre Konkurrentin, die Italienerin Elisa Cusma, erregte sich: „Für mich ist sie keine Frau, sie ist ein Mann.“ Semenya gewann trotz aller Verdächtigungen und Anfeindungen das Finale von Berlin. Sie rannte so schnell wie noch nie: 1:55,45 Minute. Da war ihr schon klar, dass sie den Geschlechtstest der IAAF nicht bestanden hatte.

Die Athletin wurde zum Spielball von Interessen, vor allem wurde das Private beschämend öffentlich. In ihrer Heimat wurde sie vom African National Congress (ANC) zwar als Heldin gefeiert, aber in der Leichtathletikszene galt sie als „Mannweib“, das sich einen unlauteren Vorteil verschafft hat. Semenya verkroch sich, kämpfte gegen Depressionen und Selbstzweifel. Der internationale Verband schuf in seiner Hilflosigkeit im Umgang mit Ambiguität eine Regel, dabei hatten sich schon alle bis dahin geltenden Regeln als unbrauchbar erwiesen.

Eindeutig waren die Fälle nie, ziemlich sicher war allerdings, dass Sportlerinnen, die das unwürdige Examen nicht bestanden hatten, in existenzielle Nöte gerieten – wie die Niederländerin Foekje Dillema, die sich, als sie 1950 mit einem Startverbot belegt wurde, in ihrer friesischen Heimat verschanzte; es heißt, sie habe ein Jahr lang ihr Haus nicht verlassen. Oder die Inderin Santhi Soundarajan, auch sie eine 800-Meter-Läuferin. 2006 wurde sie gesperrt. „Ich werde behandelt wie eine Aussätzige. Ich traue mich nicht mehr aus dem Haus, und ich werde von meiner eigenen Verwandtschaft gemieden“, sagte sie nach der Sperre.

Ähnlich erging es der spanischen Hürdenläuferin Maria José Martínez-Patiño, die genetisch XY ist, aber unempfindlich auf Testosteron. Auch sie wurde aussortiert. Und als sie trotz Warnungen bei einem nationalen Wettbewerb 1986 wieder an den Start ging, wurde sie in der spanischen Presse denunziert.

Im Fall von Caster Semenya sollte nun der Testosterongehalt im Blut entscheiden, ob sie künftig starten darf. Der allgemein gültige Grenzwert wurde im April 2011 bei zehn Nanomol pro Liter Blut festgelegt. Das ist eine Schwelle, die Frauen gemeinhin nicht überschreiten. Wer wie Caster Semenya aber erhöhte Testosteron-Werte hat, sollte sich auf Empfehlung der IAAF medikamentös behandeln lassen. Doch dann bekam Caster Semenya unerwartet Hilfe aus Indien.

Von der Sprinterin Dutee Chand. Sie wurde 1996 im Bundesstaat Odisha geboren, in Gopalpur, im Osten Indiens. 2013 gewann sie die Bronzemedaille bei den Asienmeisterschaften über 200 Meter (23,81 Sekunden). Bei den Junioren-Leichtathletikmeisterschaften von Asien, die 2014 in Taipeh stattfanden, gewann Chand zwei Goldmedaillen, über 100 Meter und mit der 4x400-Meter-Staffel.

„Ärzte denken bei Intersexualität immer nur an Medizin, aber es ist ein soziales Phänomen“

Payoshni Mitra, Sportsoziologin

Doch je besser sie wurde, desto größer wurde auch das Geraune in der Szene der Leichtathleten. Da stimme etwas nicht mit der Inderin, hieß es. Noch im Juni 2014 reagierte der indische Leichtathletikverband auf das Gerede. Wie Semenya musste auch Chand zu einem „Leistungstest“. Ärzte untersuchten sie. Sie suchten nach dem Mann in der Frau. Man beschloss, die Athletin lieber nicht zur Junioren-WM und zu den Commonwealth-Spielen zu schicken. Diagnose: zu viel männliche Sexualhormone im Blut. Therapie: Medikamente.

Doch Dutee Chand wollte nichts verändern an ihrem Körper. Unterstützt von der indischen Frauenrechtlerin und Sportsoziologin ­Payoshni ­Mitra zog sie vor das internationale Sportgericht CAS in Lausanne. „Ärzte denken beim Thema Intersexualität immer nur an Medizin, aber es ist ein soziales Phänomen“, sagte Mitra. Flankiert wurde das von einer ­Petition im Netz – „Let ­Dutee run!“

Vor dem CAS ging es darum, ob der Testosterongehalt im Blut wirklich der beste Parameter ist, um Männer und Frauen in ihrer Leistung zu unterscheiden. Unzweifelhaft macht ein Plus an Testosteron Männer muskulöser, schneller. Aber die Partei Chands präsentierte Unter­suchungsergebnisse, die die Testosteronthese ins Wanken brachten. Wenn männliche Athleten etwa vom Training erschöpft sind, kann deren Testosteronwert in „weibliche“ Bereiche sinken. Außerdem sei der Schwankungsbereich bei Frauen erheblich größer. Zudem verhalte sich das körpereigene Testosteron ganz anders als das etwa zu Dopingzwecken zugeführte – eine heftig umstrittene These.

Auch Paula Radcliffe äußerte sich vor dem CAS als Expertin – für die Gegenseite, also die IAAF. Sie hat 2013 im IOC an der Überarbeitung der Testosteronregel mitgearbeitet. Sie habe ernste Bedenken hinsichtlich der Fairness, sagte die Britin vor den CAS-Richtern. „Erhöhte Werte machen den Wettkampf viel ungleicher als Talent oder Hingabe.“

Der CAS sprach am 24. Juli 2015 sein Urteil: Das Startverbot von Dutee Chand bleibt teilweise bestehen, aber die Testo­steronregel der IAAF wird für die Dauer von zwei Jahren ausgesetzt. In dieser Zeit muss der Verband bessere Argumente liefern, um die Korrelation von Testosteron und Leistungssteigerung zu untermauern. Die gute Nachricht für die Sprinterin: Bis zum Sommer 2017 darf sie wieder an Wettkämpfen teilnehmen.

Dutee Chand wird in Rio laufen. Sie hat ihre Bestzeit erheblich verbessert. In diesem Jahr ist sie die 100 Meter in 11,24 Sekunden gerannt. Auch Caster ­Semenya ist in Topform. Neulich blieb die Uhr bei 1:55,33 Minute stehen. Neue persönliche Bestzeit über 800 Meter. Die Südafrikanerin greift nach Gold, die Inderin hofft auf eine Bronzemedaille. Paula Radcliffe wird das nicht gefallen.