Geißeln der Menschheit

Die Vogelgrippe ist möglicherweise nur eine von vielen bedrohlichen Zumutungen der Globalisierung. Panik und Panikmache verraten nur, dass das Immunsystem funktioniert

VON ARNO FRANK

Es ist die Pest. Mit ungebremster Wucht entvölkerte sie früher ganze Landschaften, löschte blühende Kulturen aus und zwang selbst stolzeste Zivilisationen in die Knie. Damals verfolgte die halbe Menschheit in atemloser Spannung ein Weltuntergangstheater, das heute höchstens noch in der Provinz zur Aufführung kommt – wenn die mangelnde Hygiene es erlaubt.

An qualifizierten Kandidaten für den Job als „Geißel der Menschheit“ freilich herrscht kein Mangel: Pocken, Cholera, Milzbrand, Polio, Röteln, Mumps, Masern, Diphtherie, Grippe, Tollwut, Tetanus, Geflügelpest, Hepatitis-A-B-C, Ebola, Marburg, Krim-Kongo, Lassa, MKS, Aids, BSE , Sars – fast alle apokalyptischen Reiter haben sich schon auf die Stelle beworben und Arbeitsproben abgeliefert. Nun ist offenbar die Vogelgrippe an der Reihe – unabhängig davon, ob sie sich wirklich als so gefährlich erweisen wird, wie es manche Experten befürchten.

Zum Gruseln

Gruseln jedenfalls darf sich eine interessierte Öffentlichkeit schon seit geraumer Zeit vor der rätselhaften Seuche. Zwar sind dem H5N1-Virus seit seinem ersten Auftreten in China gerade mal 60 Menschen zum Opfer gefallen; zwar streiten Wissenschaftler noch immer, ob und wann der Erreger zu einer ernsthaften epidemischen Bedrohung mutieren wird. Aber eine gefühlte Bedrohung ist die Vogelgrippe schon jetzt. Erstens deshalb, weil eindrucksvoll auf historische Vorläuferinnen wie die „Spanische Grippe“ nach dem Ersten Weltkrieg verwiesen werden kann. Und zweitens deswegen, weil uns die Vogelgrippe wochenlang und medial bestens dokumentiert entgegenkam, quer durch die endlosen Steppen Asiens bis zu seinem kleinen Vorgebirge: Europa.

Erst hier findet die Vogelgrippe ein Milieu, in dem sie grassieren kann – freilich im übertragenen Sinne, wie es sich für eine übertragbare Krankheit gehört. Denn in den überheizten Treibhäuser unserer Gesellschaft sind es die Medien, die sich zuerst infizieren. Natürlich gibt es eine potenzielle Gefahr, gibt es Krisenstäbe, Sondersitzungen und Notschlachtungen – aber es gibt auch so etwas wie einen Automatismus der medialen Erregungsproduktion.

Da mögen die Medien noch so seriös darum bemüht sein, das Informationsbedürfnis der Bevölkerung zu stillen – immer wird eine hysterische Furcht vor einer Katastrophe biblischen Ausmaßes mitschwingen. Weil, was von außen eindringt, in der Logik einer sich stabil wähnenden Gesellschaft nur selten Gutes bringt. Genau genommen gibt es überhaupt keine menschliche Gemeinschaft oder Gesellschaft, die sich nicht mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln gegen die Zumutungen der Außenwelt abschirmt.

Die Spur dieses menschlichen Reflexes reicht von den ersten Städten im Zweistromland (deren Mauern deswegen so irrsinnig dick waren, weil sie neben realen Gefahren auch die als bedrohlich empfundene Natur selbst abweisen mussten) bis zu den ebenso irrsinnigen Plänen des Pentagons, die USA hinter einem Raketenschutzschirm zu verbarrikadieren.

Dieses Bedürfnis, sich sozusagen gegen die Erkältung der Entgrenzung zu rüsten, muss in einer globalisierten Gesellschaft zwangsläufig überhitzen. In der globalisierten, übermobilisierten Welt ist die Idee eines geschützten Innen als Illusion entlarvt. Und deshalb muss es uns scheinen, als sei das fürchterliche Außen, als seien alle Plagen plötzlich unter uns – die Kommunistenhatz der McCarthy-Ära in den USA gibt ein warnendes Beispiel ab für die Panik, in die ein Gemeinwesen von dieser Einsicht getrieben werden kann.

Der Sars-Erreger kommt bequem per Flugzeug, ein verarmter Kontinent klopft immer eindringlicher an die Tür eines sehr wohlhabenden – und tatsächlich haben internationale Hedgefonds und Heuschreckenschwärme gemeinsam, dass sie sich um Grenzen (oder sonstige Hindernisse) nicht scheren.

Vielleicht ist sie ja wirklich gefährlich, diese Vogelgrippe. Wir werden sehen, wie unser Immunsystem reagiert. Und Schlagzeilen lesen, wie man Lymphknoten abtastet.