wucht Unica Zürn, Künstlerin, Schriftstellerin, eine, die Anagramme dichtete wie niemals jemand vor ihr und nach ihr, wäre im Juli 100 geworden
: Sie wär’ nie hundert geworden / Wehe, todwunde irre Sängerin*

Unica Zürn Foto: Brinkmann & Bose

Wie man Anagramme macht? Unica Zürn, Meisterin dieser strengen Gedichtform, erklärte es so: „Anagramme sind Worte und Sätze, die durch Umstellen der Buchstaben eines gegebenen Wortes oder Satzes entstanden sind.“ Amok – Koma. Ernst – Stern. Sicht – Stich. „Nachdem das Paar verschwunden war“ – „Ade, verschwinde armes Paar nach D.“ Jeder Buchstabe im ersten Wort, im ersten Satz, kommt im zweiten vor. Was Zürn nicht sagt: dass bei Anagrammen Wahnsinn und Dichtung nah beieinanderliegen. Ein engeres Korsett kann Lyrik nicht haben.

Korsett ist eins der vielen Stichwörter–Sichtwörter für Unica Zürn, die am 6. Juli 100 Jahre alt geworden wäre. Sie hat über hundert Anagramme gedichtet, auch Bücher geschrieben, Fragmente, sie hat gezeichnet, gemalt – den Surrealisten stand sie nahe, wurde selbst Surrealistin genannt. Nur: Etwas blieb uneingelöst, das Traumhafte, das Überwirkliche war wirklich bei ihr. Manche nennen das Korsett, das ihre Kehle zuschnürte, Depression, Wahn, Schizophrenie. Andere nennen es: Schicksal einer Frau.

Unica Zürn ist Tochter eines oft abwesenden Kavallerieoffiziers, stationiert in den afrikanischen Kolonien, und einer abweisenden großbürgerlichen Mutter. Vom Bruder wird Zürn missbraucht. Traumatisiert rutscht sie in die Pubertät. Und dann kamen die Nazis – Zürn arbeitet bei der UFA für Werbe- und Propagandafilme. Als sie kapiert, was die Nazis taten, lebt sie mit Schuld. Nach dem Krieg heiratet sie, bekommt zwei Kinder, die ihr nach der Scheidung weggenommen werden. Später kommen drei traumatisierende Abtreibungen dazu.

Nach der Scheidung werden Zürns Kontakte zu Berliner Künstlerkreisen wichtiger, vor allem mit „automatischem Malen“ hat sie Erfolg. Da lässt man das Unbewusste den Stift führen. Anfang der 50er Jahre trifft sie Hans Bellmer, einen in Paris lebenden obsessiven Künstler; weibliche Puppen zerstückelt er und fügt sie falsch wieder zusammen. Er macht Fotos von Zürn, die von ihm eingeschnürt wurde, sodass Kopf, Leib und Gliedmaßen verschmelzen. Zürn zieht zu ihm nach Paris. Er ermutigt sie zur Anagrammdichtung, denn Sprache sei zu dekonstruieren wie der Körper, meint er. Freunde sagen, es beruhigte Zürn, wenn sie in der Anagrammsuche versank.

Zürns Beziehung zu Bellmer ist eine „Amour fou“, hin, her, gemeinsame Depressionen, gemeinsame Ausstellungen, 1959 auf der Documenta, Aufenthalte in Nervenkliniken – sie kann die Beziehung nicht beenden. Dann beendet sie sie doch. Nach einem langen Klinik­aufenthalt geht sie im Oktober 1970 zu Bellmer und stürzt sich dort aus dem dritten Stock.

Waltraud Schwab

Eine Zeichnung von Unica Zürn, in der sich auch ein Anagramm ihres bürgerlichen Namens Ruth Zürn und ihrer Berliner Adresse verbirgt Die auf dieser Seite abgedruckten fünf Anagramme sind mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus: Unica Zürn Gesamt­ausgabe, Band 1, Verlag Brinkmann & Bose, Berlin 1988 Foto: Zeichnung: Unica Zürn/Brinkmann&Bose

* Heute gibt es digitale Anagrammgeneratoren. Einmal den Text eingegeben, spucken sie alle sinnhaften Variationen aus. Das Anagramm der Überschrift entstand mithilfe von

http://wortschatz.uni-leipzig.de/html/suche_2.html

Ich weiss, wie man die Wollust macht

Die Wollust macht man, wie ich weiss

im wachen Du. O wie Samt schwillt sie

an. Ich will sie stumm, wie todeswach.

Du schwammst, wie ich, ins All – O Weite - -

Ermenonville, 1959

Ihr haettet Eure Augen ausgerissen …

Euer Tag heisst HART. Eure Augen SEIN.

Eure Haut ist GESANG. Euer Rat SEH EIN.

Euer Haus ist GETARNT. Eure Siege NAH.

Eure Tat: ein Sarg-geeintes Ruhehaus.

für meinen Sohn Christian

und für H. M.

Ich widme dieses Anagramm-

Gedicht diesen Beiden am Morgen

des 26. 9. 60 im Minerve Hotel

13, rue des Ecoles, Paris 5e

Das Leben ist schoen

Tod blas es in Schnee

schoen ist das Leben,

das Scheinen. Lobt es!

O selbst ein Schaden

ist schoen. Das Leben

liebend – ach Stossen,

lachende Not, es biss

deinen Schoss. Labet

das Leben, schoen ist

die Sonne. Ach, selbst

das Eisen lebt schon.

Berlin, 1956

Wir lieben den Tod

Rot winde den Leib,

Brot wende in Leid,

ende Not, Beil wird

Leben. Wir, dein Tod,

weben dein Lot dir

in Erde. Wildboten,

wir lieben den Tod.

Berlin, 1953–54

Aller guten Dinge sind drei

Legenden sind Leid. Traurig

sind aller Guten. Drei Dinge

liegen in Dir: Du, Er, Es. Langt

es Dir, dring ein. Alle Tugend

luegt. Lange sind Drei in der

stillen Runde. Da ging er und die

Dinge sind alle irre. Tugend

ist der Ring in Galle, den Du

in Dir leidest. Runde Galgen

sind alle Ringe der Tugend. (i)

Île de Ré, Frühling 1964