Leben, Leiden und Lehren
Lothars sprechende Memoiren

LITERATUR Die Palette ist breit in diesem Jahr. Liebenswertes Geschwafel, sinnliche Sätze und erschütternde Einblicke. Drei Sportbücher zum Fest

„Dieser elende Ouzo im Vereinsheim!“ Lothar Matthäus ist ein anständiger Mann. Er bereut, wenn er mal Mist gebaut hat. Ein Mist war eine Alkoholfahrt 1983 an einen Gartenzaun mit 2,06 Promille im Blut. Ein Mist, der einem Mann schon mal passieren kann. So wie es einem Mann passieren kann, dass er mit den Frauen, die er für sich ausgesucht hat, dann doch nicht so recht zurechtkommt. Darüber erzählt der ehemalige Weltfußballer, der Rekordnationalspieler und Trainer im ewigen Wartestand auch in seinen Memoiren. Bei den ganz schlimmen Eskapaden war er nie dabei, er war kein Drogentobi wie Diego Maradona und auch zur frauengeilen Säufertruppe (Matthäus: „Klassenfahrt liebeshungriger Halbstarker“), die der DFB zur Fußball-WM 1982 geschickt hat, gehörte er nicht. „Es passierten Dinge, die nicht mal ich in meinem Buch aufschreiben möchte“, schallt es einem beim Lesen entgegen.

Denn bei Lothar Matthäus wird Lesen zum Hörerlebnis. Da schreibt keiner, da redet einer. Einer, von dem man weiß, wie er redet. Sein Co-Autor, der erfahrene Ghostwriter Martin Häusler, hat ihn einfach quatschen lassen und wahrscheinlich nur die Punkte und Kommata gesetzt, ohne die Matthäus für gewöhnlich spricht. „Ganz oder gar nicht“ ist ein Buch, mit dem man sich das lieb gewordene Geschwafel des Weltmeisters von 1990 ins Wohnzimmer holen kann. Man kann es an beinahe jeder Stelle aufschlagen und muss nicht lange nach einem typischen Matthäus suchen. An seine Zeit als bulgarischer Nationaltrainer hat er folgende Erinnerung: „Der bulgarische Spieler hat auf gar nichts Lust gehabt. Natürlich nicht jeder, aber doch sehr viele!“ Noch besser wird er, wenn er über seine Frauen schreibt: „Ich habe stark angefangen, das Ergebnis gehalten und am Ende ein sicher geglaubtes Spiel doch noch verloren.“ Sein Lebensfazit: „Mein Leben könnte ein turbulentes und unterhaltsames 4:2 sein.“ Zwei einfache Zahlen für ein ganzes Fußballerleben.

Das darf man noch einmal miterleben. Seine Anfänge in Mönchengladbach, der Bayernspieler, der italienische Meister, der Weltmeister, der Trainer. Manchmal wird es richtig ernst – wenn er von seiner Zeit als Trainer von Maccabi Natanya in Israel erzählt zum Beispiel. Doch auch da bleibt Lothar Lodda: „So willensstark der Israeli ist, wenn es um Religion und Krieg geht, so stolz er mit seinem Maschinengewehr im Kino sitzt, so schwach ist er auf dem Fußballplatz, wenn irgendein irritierendes Nebengeräusch zu vernehmen ist.“ Wer des Franken Matthäus Buch der Sprüche liest, muss aufpassen, dass er nicht dereinst Palästinenser mit B schreibt, so authentisch kommt es daher. Ein sprechendes Buch, ein Meisterwerk unfreiwilliger Hochkomik und irgendwie sogar ein bisschen ehrlich. ANDREAS RÜTTENAUER

■ Lothar Matthäus: „Ganz oder gar nicht“. Lübbe 2012, 224 S., 19,99 €

Gnadenlos schöner Schmerz

Vielleicht ist es gut, dass ihr als Schwimmerin nie der große Durchbruch gelungen ist. Liest man „Bahnen ziehen“, den jüngsten Roman der kanadischen Autorin Leanne Shapton, die in ihrer Jugendzeit eine ambitionierte Schwimmerin war, kommt einem dieser Gedanke unweigerlich. Denn sonst stünde sie wahrscheinlich heute auch nur am Beckenrand und würde über zwei fehlende Zehntel und den missglückten Anschlag sprechen. „Ich erinnere mich an die schlichte Tatsache, dass ich, als ich schwamm, immer Schmerzen hatte“, schreibt Shapton. In „Bahnen ziehen“ geht sie auch der Frage nach, worin die Faszination und die Schönheit im Schmerz lag.

Shapton erzählt von ihrem großen Traum, der Qualifikation für die Olympischen Spiele. Sie erzählt, wie sie zweimal, 1988 und 1992, bei den Trials, den Ausscheidungswettkämpfen, scheitert. Und sie erzählt, dass alles außer der erreichten Quali-Norm nichts wert war – zumindest in den Augen ihres Umfelds, das das einer Leistungssportlerin war, die eben noch härter trainieren muss, wenn es nicht reicht.

Die heute 39-jährige Shapton beendete mit knapp 19 Jahren ihre Sportlerkarriere. Sie studierte in Montreal und New York Kunst, arbeitete später als Illustratorin, als Comiczeichnerin und Autorin. Sie verschmolz in ihrem Werk Prosa, Graphic Novel und Illustration. Auch Bahnen ziehen ist von ihr illustriert: Skizzen von Schwimmbecken, Bewegungsstudien in Aquarellen und ihre Badeanzugssammlung inklusive Orts- und Zeitangabe zu Kauf und Benutzung finden sich dort wieder.

Shaptons Buch geht weit über eine Beschreibung des Systems Leistungssport hinaus. Sie fesselt den Leser spätestens, als sie ein Finale eines Wettkampfs schildert und dort die Teilnehmerinnen kurz in ihrer anderen, alltäglichen Welt vorstellt. „Bahn eins ist eine achtzehnjährige Vegetarierin, die sich Spinnen als Haustiere hält.“ Shapton berichtet über das Heranwachsen im Schwimmbecken und zwischen den Wettkämpfen, von den Konflikten und den Beziehungen zwischen Sportlern, deren Erwachsenwerden aufgeschoben wird. In ihren Beobachtungen ist Shapton genau, sie schreibt fast sinnlich. Sie reflektiert und sieht all das, was im Sport ständig präsent ist und doch selten beschrieben wird: das blätternde Holz der Umkleidebank, der Badeanzug auf der Haut, das Leben in Zahlenwelten.

Shapton zeigt, wie sehr eine Leistungssportlervergangenheit prägt: „Noch heute träume ich vom Training, von Wettkämpfen, von Trainern und schemenhaften Konkurrenten.“ Und sie findet wunderbare, klare Worte für Tausende von Kraul- und Brustzügen, die sie einst getätigt hat: „Die Stunde zwischen vier und fünf Uhr morgens ist grauenvoll, vor allem im tiefsten kanadischen Winter. Zu wissen, dass ich in kaltes, überchlortes Wasser springen und zwei Stunden gnadenlosen Muskelschmerz aushalten muss, macht es noch schlimmer. Das einzig Tröstliche zu dieser Uhrzeit ist die stille bläuliche Schwärze vor dem Fenster, die weniger bedrohlich ist als die Finsternis um Mitternacht.“ JENS UTHOFF

■ Leanne Shapton: „Bahnen ziehen“. Suhrkamp 2012, 325 S., 18 €

Beispiellos vergiftete Sportsphären

„Sportler im ‚Jahrhundert der Lager‘ “ ist der Band überschrieben. Es hätte aber ebenso gut Sportler im Jahrhundert des Hasses, der Vernichtung oder des Rassenwahns auf dem Buchdeckel stehen können. Die Herausgeber Diethelm Blecking und Lorenz Peiffer, beide Sporthistoriker, stellen Täter vor, Opfer und Widerstandskämpfer. Wie jede andere gesellschaftliche Sphäre herrschte auch in der des Sports eine beispiellos vergiftete Atmosphäre. Der Sport, so stellen die Herausgeber fest, war „als Motor und Produkt gesellschaftlicher Modernisierung sowie als Nutznießer und Begleiter industrieller Herrschaftstechniken tief eingebunden in die Prozesse von Herrschaftsformierung, Disziplinierung und Mentalitätsformung“. Kurzum: Sportfunktionäre und Sportler zeigten wie andere auch extremste Verkrümmungen des Charakters, manche aber auch Standhaftigkeit und Mut.

Es ist Bleckings und Peiffers Verdienst, eine große Übersicht zu liefern, die den stalinistischen Terror nicht ausspart. In der Zentrale des Hasses, in Deutschland, zögerten etliche Sportverbände, die Rassengesetze der Nazis in den Vereinen schnell umzusetzen, die Turner aber wollten es besonders gut machen. In vorauseilendem Gehorsam sorgte Turnchef Edmund Neuendorff bereits im Sommer 1933 dafür, dass keine jüdischen Sportler mehr in der Deutschen Turnerschaft (DT) waren. Neuendorff überwand seine Skrupel („Auch ein Jude kann ein feiner Mensch sein“), verdiente jüdische Mitglieder wie die Brüder Flatow aus Berlin auszuschließen. Er argumentierte: „Die deutsche Kultur, das deutsche öffentliche Leben, die deutsche Sittlichkeit sind vom Judentum so stark verschandelt worden, … dass wir da unter allen Umständen einen ganz dicken Strich unter die Vergangenheit machen müssen.“

Auf Ausgrenzung und „Ausscheidung“ folgte die physische Vernichtung. Manch einer tötete sich ob der erlittenen Demütigung selbst, wie der Turner Fritz Rosenfelder aus Cannstatt im Jahre 1933. Er galt als aktives Mitglied im dortigen Turnverein. In seinem Abschiedsbrief bekannte er jedoch, er wolle nicht als „Vaterlandsverräter“ betrachtet werden. Sein Fall schlug Wellen, das nationalsozialistische Hetzblatt Der Stürmer machte damit auf Seite eins unter dem Titel „Der tote Jude“ auf. „Wir haben nichts dagegen, wenn seine Rassengenossen sich in der gleichen Weise empfehlen“, kommentierte der Nachrichtendienst der NSDAP. Rosenfeld hoffte bis zuletzt vergebens, dass „in Bälde die Vernunft Einkehr halten“ möge. Die Schicksale von Gretel Bergmann, Werner Seelenbinder, Johann Trollmann oder Karl Bühren belegen das. Wer diese Sportler nicht kennt, sollte sich schnell dieses sehr gelungene Buch besorgen. MARKUS VÖLKER

■ Diethelm Blecking und Lorenz Peiffer (Hg.): „Sportler im ‚Jahrhundert der Lager‘. Profiteure, Widerständler und Opfer“. Werstatt-Verlag, 353 S., 28 €