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Ein unbeherrschter Moment

Diskurs Sigmar Gabriel zeigt rechtsextremen Pöblern den Stinkefinger, als die ihn beschimpfen. Prompt ist die Aufregung groß. Darf ein Vizekanzler das?

von Ulrich Schulte

BERLIN taz | Sigmar Gabriel ist bekannt dafür, nicht allzu di­plomatisch durchs Leben zu gehen. Wenn ihm danach ist, bügelt der rauflustige SPD-Chef Journalisten ab, staucht Parteifreundinnen zusammen oder legt sich mit der Bundeskanzlerin an, mit der er in einer Regierung sitzt.

Jetzt sorgt eine unmissverständliche Geste des Vizekanzlers für Aufregung: Gabriel hat rechtsextremen Pöblern bei einem Besuch in Salzgitter den Mittelfinger gezeigt. Der Hashtag auf Twitter ließ nicht lange auf sich warten. Unter #stinkefinger gingen die Meinungen weit auseinander. Viele Nutzer lobten Gabriel. „Von ‚Volksverräter‘ zu ‚Volksverräter‘: Kann Deine Reaktion gut verstehen“, twitterte zum Beispiel Grünen-Chef Cem Özdemir. Andere fanden sein Verhalten despektierlich. AfD-Chefin Frauke Petry bezeichnete die Geste auf Facebook als „kindisch“. Gabriel ­mache deutlich, dass er nichts von freier Meinungsäußerung halte.

Darf ein Vizekanzler Nazis den Mittelfinger zeigen? Die umstrittene Szene ist in einem Video zu sehen, das die Jungen Nationaldemokraten Braunschweig am Dienstagmorgen auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichten. Die JN Braunschweig ist eine Ortsgruppe der Jugendorganisation der NPD. Offenbar haben die Rechten das mit aggressiver Musik unterlegte und gut geschnittene Stück selbst gedreht. Es verbreitete sich erst richtig, als eine linke Gruppe namens „Antifa Kampfausbildung e. V.“ es auf Facebook postete. Innerhalb kürzester Zeit wurde es Zehntausende Male geöffnet und häufig kommentiert.

Der vergangene Freitag in Salzgitter: Gabriel, der auf Wahlkampftour ist, schlendert mit Begleitern durch den Rosengarten. Dann taucht ein knappes Dutzend junger Männer auf, sie tragen Kapuzenpullis, schwarz-rot-goldene Masken und skandieren „Volksverräter“. Einer der Rechten brüllt: „Mensch, dein Vater hat sein Land geliebt. Und was machst du? Du zerstörst es.“ Gabriel winkt erst müde lächelnd ab. Doch dann zeigt er den Neonazis den Stinkefinger und dreht sich weg.

Dazu muss man wissen: Ga­briels Vater, ein Vertriebener aus Schlesien, war ein überzeugter Nationalsozialist. Seine Kindheit verbrachte Gabriel bei einem in Hass erstarrten Mann, bis die Mutter das Sorgerecht bekam.

Gabriel wird Sprunghaftigkeit vorgeworfen, aber beim Kampf gegen rechts verfolgt er eine klare Linie. Er versuchte ­(erfolglos), Thilo Sarrazin aus der SPD zu drängen, und er machte schon mal mit harscher Kritik an Nazis Schlagzeilen. Als organisierte Kader der Rechtsextremen 2015 in Heidenau ­Proteste vor einer Flüchtlingsunterkunft organisierten, nannte Gabriel sie vor laufenden Kameras „Pack“. Danach wurde ihm von Medien und ­Politikern vorgeworfen, er begebe sich mit solchen Äußerungen auf das Niveau der Pöbler.

„Dein Vater hat sein Land geliebt. Du zerstörst es“

Rechter zu Gabriel

Aber schadet ihm der Stinkefinger? In SPD-Kreisen hieß es, die Geste schade ihm bestimmt nicht – schließlich richte sie sich gegen Neonazis. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Klingbeil kommentierte die Sache auf Twitter ironisch: „Hat eigentlich schon jemand Gabriel kritisiert, weil er nicht beide Mittelfinger genommen hat?“

Es ist nicht das erste Mal, dass ein SPD-Spitzenpolitiker diese rüde Geste macht. Wolfgang Clement, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, reckte den Finger 2000 empor, als ihn Jugendliche bei einem Rundgang auf der Expo fragten: „Wer bist du?“ Auch Peer Steinbrück, Kanzlerkandidat im Wahlkampf 2013, zeigte den Stinkefinger. Das SZ-Magazin hatte ihn in der Fotorubrik „Sagen Sie jetzt nichts“ nach Spitznamen wie „Problem-Peer“ oder „Pannen-Peer“ gefragt, die ihm Medien verpasst hatten.

Steinbrücks Reaktion war allerdings nicht so spontan wie die Gabriels. Er gab das Foto nach dem Shooting offiziell frei.

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