Frankreich

Wer war Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der mehr als 80 Menschen mit einem Lkw ermordete? Ein Besuch in den Banlieues von Nizza

"Ein übler Typ", aber kein religiöser Muslim

PROFIL War der Attentäter von Nizza ein psychisch kranker Einzeltäter oder ein Anhänger der Dschihadistenmiliz IS? Oder beides? Auch nach einem IS-Bekennerschreiben am Samstag bleiben viele Fragen zum Täterprofil offen. Die Regierung spricht von einer „schnellen Radikalisierung“

PARIS taz | „Ein Irrer oder ein Irrer Gottes?“, so fasst die Sonntagszeitung Journal du Di­manche das Rätselraten um das Täterprofil zusammen. Der Pariser Staatsanwalt François Molins lieferte auf einer Pressekonferenz weitere Angaben zur Identität des Attentäters.

Der Mann, der am Abend des Nationalfeiertags an der Promenade des Anglais 84 Menschen mit einem gemieteten Lastwagen totgefahren und 50 schwer verletzt hatte, bevor er von Polizisten gestoppt und erschossen wurde, hieß Mohamed Lahouaiej Bouhlel. Der 31-Jährige gebürtige Tunesier war verheiratet und hatte drei Kinder im Alter zwischen 18 Monaten und 5 Jahren. Zuletzt hatte er als Fahrer für Lieferdienste gearbeitet.

Er war, wie Molins bestätigte, der Polizei durchaus bekannt, allerdings lediglich wegen Gewaltdelikten. Wegen einer handfesten Auseinandersetzung mit einem Autofahrer war er zu Beginn dieses Jahres zu einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden.

Seine ebenfalls aus Tunesien stammende Exfrau ist am Freitag, wie inzwischen sieben andere Personen aus seinem Umkreis, von der Polizei zur Befragung festgenommen worden. Einige französische Zeitungen sprechen bereits von einem Terroristen neuen Typs. Zwar rekrutieren Terrorgruppen mit Vorliebe in Kreisen von desorientierten Kleinkriminellen und vor allem in den Gefängnissen. In diesem Fall aber scheint jede Beziehung zum Islam oder zum radikalen Islamismus zu fehlen.

Die Vorstellung, neben einem angeblichen „Islamisten“ gewohnt zu haben, lässt seinen Nachbarn Youness im Norden von Nizza völlig perplex: „Er war immer europäisch gekleidet, trank Alkohol, ging in Nachtlokale, er verrichtete keine Gebete und respektierte auch den Ramadan nicht. Ich hätte da die größte Mühe, einen Zusammenhang mit der Religion zu sehen. Ich glaube eher, dass er total durchgedreht ist.“

Andere Nachbarn im Quartier Bateco wussten auch, dass Bouhlel seine Frau, meist unter Alkoholeinfluss, geschlagen habe. „Ein übler Typ“, „an der Grenze zum Psychopathen“, sagen sie jetzt. Die misshandelte Gattin war deswegen auch zur Polizei gegangen. Die Trennung erfolgte schließlich, als sie mit dem dritten Kind schwanger war. Er zog dann in das Quartier der ehemaligen Schlachthöfe im Osten von Nizza um. Die Nachbarn an seinem neuen Wohnort sprechen von einem unangenehmen Zeitgenossen, der niemanden grüßte und mit niemandem sprach.

Sein Vater erklärte inzwischen in den Medien, sein Sohn habe ihn noch am Ende der Fastenzeit besucht, er habe „normal“ gesprochen, aber gesagt, er sei krank. Schon vor mehr als zehn Jahren habe er Wutanfälle gehabt: „Er schrie und schlug alles zusammen.“

Der tunesische Arzt, der ihn 2004 im tunesischen Sousse ein einziges Mal untersucht hatte, spricht von „Charakter- und Verhaltensstörungen“, die auf den Beginn einer Psychose hindeuten konnten. Als Mediziner vermutet er aber: „Selbst im Fall einer Psychose braucht es irgendeine Indoktrinierung für einen Hemmungsverlust.“ Für eine solche Manipulation haben die Ermittler bisher aber noch keine stichhaltigen Hinweise gefunden.

Für die französische Regierung dagegen steht mangels anderer Beweise fest, dass sich Bouhlel „sehr schnell radikalisiert“ haben müsse. Sie stützen sich dabei angeblich auf Aussagen seiner Bekannten und eine SMS, die möglicherweise auf einen eingeweihten Komplizen hindeuten könne.

Bei seiner Todesfahrt durch die Zuschauermenge am Natio­nalfeiertag in Nizza handelt es sich aber um eine vorsätzliche und vorbereitete Tat, nicht um eine suizidäre Kurzschluss­handlung. Schließlich hatte Bouhlel eigens seine Bank­konten geleert, sein Auto verkauft und dann einen 19-Tonner bestellt, angeblich für Umzugsarbeiten. Unklar ist auch, wie er in den Besitz der Pistole vom Kaliber 7,65 mm kam, mit der er auf die Polizeibeamten feuerte. Merkwürdigerweise hatte er im Lastwagen auch Spielzeugwaffen aus Plastik und eine nicht funktionsfähige Handgranate dabei.

Ungeachtet der Frage, ob er auch Komplizen oder Auftraggeber hatte, weiß man, dass die Terrormiliz IS mit ihren Aufrufen zu Mord und Terror auch solchen Einzeltätern ziemlich klare Anweisungen gibt, um mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mordinstrumenten einen unermesslichen Schaden anzurichten. Das allein könnte den IS-Propagandisten reichen, um sich anschließend als Auftraggeber mit dem Horror zu brüsten.

Rudolf Balmer