Großväter des Hardcore-Punk

Konzert„Flag“ spielten am Freitagabend im SO36 enthusiastisch unter falscher Flagge „Black Flag“-Songs, den Sound ihrer Jugend

Keith Morris gerät etwas außer Atem zwischen den Songs. Ein- bis zweiminütige Punknummern in zügigem Tempo herunterzubrettern und sich dabei die Seele aus dem Leib zu brüllen ist schließlich nicht mehr die leichteste Übung, wenn man ein wenig in die Jahre gekommen ist. Aber der Sänger der Gruppe, die Flag heißt, ist froh, sich dem Bühnensport im fortgeschrittenen Alter überhaupt noch widmen zu können: „Ich bin ein bisschen stolz, dass wir hier stehen. Ich bin 61 Jahre alt, Chuck ist 62. Wir alle haben mit irgendwelchen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt, einer mit Krebs. Und nun stehen wir wieder hier. Unsere Band hat an diesem Ort schon vor 33 Jahren gespielt.“

Bassist Chuck Dukowski lächelt; mit seinem grauen Bart, dem gepunkteten und gebügelten Hemd, das er trägt, und der mintgrünen Gitarre, die an seinem Körper hängt, strahlt er etwas Großväterliches aus. Morris dagegen kommt mit seinen Dreads, die bis zu den Kniekehlen reichen, eher wie ein Bauwagenplatzbewohner rüber. Und als Gitarrist Dez Cadena sich zu Wort meldet (er soll später den Smash-Hit „Six Pack“ mit diabolischem Gesang vortragen), da erzählt er mit rauer, kehliger, fast krächzender Stimme, dass er den Scheißkrebs – es war Kehlkopfkrebs – überwunden habe, ihn jetzt zum Glück nur eine harte Erkältung plage.

Es ist in gewisser Weise die Großvätergeneration des US-Hardcore-Punk, die an diesem Freitagabend im SO36 gastiert. Die fünfköpfige Band nennt sich zwar Flag, eigentlich aber bestaunt man hier einen Auftritt der kalifornischen Legende Black Flag, die von 1976 an die rohe amerikanische Variante des Punk mitbegründete.

Das mag etwas verwirrend klingen; in der Tat ist es das auch. Wie es sich für ordentliche Punk-Ikonen gehört, gab es rechtlichen Streit darum, wer die 1986 aufgelöste Band unter dem Originalnamen reunionieren darf. Gewinner war Greg Ginn, ehemaliger Gitarrist, der 2013 mit den vorgeblich wirklich wahren Black Flag durch Europa tourte; der Auftritt in Berlin war seinerzeit ziemlich öde. Nun also spielt ein weiterer Teil der zerstrittenen Bande unter falscher Flagge Black-Flag-Songs.

Wie gut, dass die Jungs am Freitagabend schnell klar machen, worum es eigentlich geht: ein paar alte Punk-Klassiker spielen und Spaß haben – wer weiß, wie lange man’s noch kann. Der Auftritt ist um Längen besser als der der vermeintlich echten Black Flag vor drei Jahren. Kein Wunder, denn mit Drummer Bill Stevenson und Gitarrist Stephen Egerton (beide Leihgaben der Descendents) hat man gestandenes kalifornisches Punkpersonal auf der Bühne, das die Rockgeschichte pfleglich und sorgsam zu inszenieren weiß.

Es braucht ein bisschen, bis die Herren in Schwung kommen, dann aber ist gut was los im zu drei Vierteln gefüllten Saal. Punks, die noch aussehen wie Punks, pogen; vereinzelt sind Stagediver zu sehen, Hände werden in die Luft gereckt und Zeilen mitgegrölt – ja, vor Pathos und quasireligiösem Gestus hat Hardcore sich noch nie gescheut. Aber was sind das für Songs! Ob „Rise Above“, „Gimmie Gimmie Gimmie“, „Wasted“, „Nervous Breakdown“ und vor allem gegen Ende „Damaged“, das am stärksten Richtung Noiserock tendierende Stück: In den frühen Achtzigern waren das die besten zu Songs gewordenen Mittelfingern, die denkbar waren. Die Energie ist hier an der Oranienstraße im Jahr 2016, im dunstigen SO36-Schlauch, zumindest wieder spürbar.

Dennoch kann man auch auf die Idee kommen, dass gerade der US-Hardcore an den jugendlichen Impetus geknüpft ist wie wenig andere Genres. Aber hey, es geht hier um Spaß, erinnert einen Morris noch einmal – und es ist doch wunderbar, wenn cool gebliebene Männer den Sound ihrer Jugend noch mit so viel Enthusiasmus spielen. Knapp eine Stunde tun sie dies – das mag kurz klingen, aber in dieser Zeit kann man jede Menge 2-Minuten-Kracher runterrotzen. Jens Uthoff