: Geliebte große Schwester
ALCHEMIE AUS PORTLAND, OREGON Am Montag trat Scout Niblett im Bang Bang Club auf. Mit ihrer Gitarre und ihrer Stimme brachte sie das Publikum zum Glühen
Sie hat es wieder getan. Wieder ist sie nach Berlin gekommen und hat mit einfachen Mitteln einen Raum voller Menschen zum Schweigen und zur Andacht gebracht. Emma Louise Niblett, Künstlername Scout Niblett, inzwischen auch schon seltsame 36 Jahre alt, ist am Montagabend im gut gefüllten Bang Bang Club aufgetreten. Die Aufmerksamkeit gehörte vom ersten Ton bis zur albernen Zugabe allein ihr.
Im Januar erst erscheint ihr neues Album, „The Calcination of Scout Niblett“. Es ist reduzierter als der Vorgänger, es gibt keine Kooperationen, keine Duette mit Will Oldham, produziert hat es wie immer Steve Albini. Es ist ein nicht leicht zugängliches Album, voller Musik zum Einsperren, On/Off-Nummern, mit ruhigen, dann wieder unvermittelt explodierenden Phasen. Das gute alte Laut-leise-Prinzip, das man vom Grunge kennt und von allen Platten, die Niblett seit der Jahrtausendwende veröffentlicht. Emotionen am Rande des Wahnsinns. Der Verzweiflung. Scout Niblett hat ihre Gefühlspalette nicht unbedingt erweitert, aber wieder auf den nötigen Punkt gebracht.
Sie stellt die Intensität mit einfachem Gitarrenspiel, drei Verzerrern und einem rudimentären Schlagzeug her. Ihre Stimme beherrscht den Überschlag, die Wut, aber auch das Schmeichelnde, das Normale, sie füllte den Raum, stellte die Gespräche schnell ab, erstickte das Gelächter im Keim. Niblett, gebürtige Engländerin, die inzwischen in Portland, Oregon, lebt, macht aus den Umständen das Beste. Ihr Schlagzeuger Kristian Goddard ist diesmal zu Hause geblieben, weil er demnächst heiratet und sich deswegen einen anständigen Job suchen muss. Ihre letzte Plattenfirma Too Pure hat sie geschasst, weil die Verkäufe unter den Erwartungen blieben, obwohl die Platte mit Will Oldham und dem Minihit „Kiss“ ein größerer Erfolg war als die Vorgängerplatten; unterdessen ist sie bei Drag City untergekommen, worüber sie sehr froh ist.
Das Set bestand zu einem guten Teil aus neuen Nummern. Es machte keinen Unterschied. Bis auf „Kiss“, das sie als Zugabe spielte, und dem bezaubernd traurigen „Dinosaur Egg“, das den Kosmos des Zeterns und Schreiens gut und schlüssig zusammenfasst: „Solitude, sweet solitude/ when will you disappear? You’re an acceptable guest sometimes/ But you can’t be a long-term friend.“ Das Schöne an diesem Song ist, dass sich hier Unsinn und Tragik sehr nahe kommen und Scout Niblett ihre verrückte Mädchenhaftigkeit, ihre mädchenhafte Verrücktheit einsetzt, um die Tragik herauszustellen. Tatsächlich wirkt sie immer ein wenig wie die durchgeknallte große Schwester, die man nie hatte, sich aber immer wünschte. Oder wie das einzige Mädchen, das einen jemals wirklich geliebt hat, damals, in der späten Jugend und das man aufgegeben hat, weil man ihren Hang zu Esoterik oder ihre Launenhaftigkeit nicht ertragen hat. Wie dumm, wie schmerzhaft. Dabei macht es sogar Spaß, sie altern zu sehen. Wie es bestimmt auch Spaß macht, sie am Küchentisch sitzen zu sehen.
„Calcination“: Scout Niblett glüht und bringt zum Glühen, so alchemistisch einfach könnte man es ausdrücken. Was übrig bleibt, ist entweder Asche oder der Stein der Weisen. RENÉ HAMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen