JUNGE MENSCHEN WISSEN SELTEN, WAS SIE EINMAL WERDEN WOLLEN – WIE VIELE SCHORNSTEINFEGER BRAUCHT EINE STADT DENN AUCH? UND WIE VIELE ZOOWÄRTER?
: Luxus Lust

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Wenn man junge Menschen fragt, was sie werden wollen, dann wissen sie es meistens nicht. Ich sage das aus echter Erfahrung, ich habe selbst junge Menschen zu Hause und einige Zeit in Schulen verbracht. Die meisten, die in das Alter kommen, wo sie sich bald einem Beruf zuwenden sollten, wissen nicht, welcher Beruf das sein soll: Es kommt ihnen alles nicht verführerisch vor. Vielleicht liegt es auch daran, dass Kinder, die ja in unserer Zeit ein wertvolles Gut geworden sind, so oft gefragt werden, wozu sie Lust haben.

„Wozu hättest du denn Lust?“, fragt da die Mutter den kleinen Tommi am Samstagnachmittag, während meine eigene Mutter zu uns noch sagte: „Macht euch raus!“ Oder wir sahen selbst zu, dass wir uns rausmachten, damit wir drinnen nichts zu erledigen brauchten. Wozu wir Lust hatten, das hat in meiner Kindheit ausschließlich uns selbst interessiert. Vielleicht wussten wir deshalb auch etwas genauer, was das war. Beim Thema Berufswahl hat Lust tatsächlich dann keine so große Rolle mehr gespielt.

„Was möchtest du werden, wenn du groß bist?“, heißt es im Kindergarten – ich möchte Schornsteinfeger werden, Tierarzt, Lokführer, Wärter im Zoo. Solche Berufe werden Kindern im Vorschulalter in Büchern vorgestellt. Dabei gibt es solche Berufe gar nicht mehr. Nun ja, es gibt sie schon noch, aber wie viele Schornsteinfeger braucht eine Großstadt? Und wie viele Zoowärter? Die meisten Menschen werden doch Sachbearbeiter bei der Barmer Ersatzkasse oder Kassiererin bei Lidl.

Früher, also in meiner Jugend, war es Jugendlichen nicht erlaubt, die Lust mit in die Berufswahl mit einzubeziehen. Es gab ungefähr fünf Ausbilder in der Umgebung, auf die wurden die jungen Menschen verteilt. Sie wurden mindestens genauso ausgebeutet wie die Lehrlinge heute: Sie wurden für alle Arten von Botengängen und Späßen benutzt, aber irgendwann waren sie fertig mit der Ausbildung und dann hatten sie einen Beruf und konnten auf jeden Fall diesen Beruf auch ausüben. Das war in der DDR, da hat jeder Arbeit gefunden, wenn auch mitunter nichts zum Arbeiten.

Heute sieht das schwieriger aus. Es gibt derzeit in Schleswig-Holstein ungefähr 6.000 unbesetzte Lehrstellen, in Hamburg circa 3.500 und wie der Zufall es so will, gibt es genauso viele junge Menschen, die eine Ausbildung suchen. Suchen die also alle nicht richtig?

Es gibt verschiedene Gründe, warum die leeren Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können. Attraktive Berufe können sich Abiturienten nehmen – die besten. Weniger attraktive Berufe können sich immer noch die Abiturienten nehmen, es gibt ja genug davon. Die vollkommen unattraktiven Berufe aber, zum Beispiel die, wo man nachts um eins zu backen anfängt, finden eher keine lustvollen Bewerber. Und dann gibt es Berufe, die finden gar keine Bewerber, außer vielleicht solche, die nicht rechnen können oder nur jeden vierten Tag kommen wollen. So sieht das aus.

Was soll man also machen? Die Schulbildung verbessern? Den jungen Menschen sagen, dass es nicht so viel auf Lust ankommt im Leben, dass auch ein Text wie der hier auch mit wenig Lust geschrieben werden kann? Dass Lust überhaupt ein Luxus ist, der sich als Lebenskonzept nur erfolgreich auf die Sexualität anwenden lässt – dann aber schon in der Elternschaft seine Bedeutung verliert? Dass Lust manchmal etwas ist, das erst in und durch das Tun entsteht? Bin ich eine Klugscheißerin, die sich selbst sehr lange lustvoll durchs Leben geschlampert hat?

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.