Auch Ellenbogen zeigen

Theater In der Speicherbühne geht die „Intensivprobenwoche“ mit Geflüchteten zu Ende. Nicht nur harmonisch, aber produktiv

Bereit zum Kennenlernen: In der Speicherbühne wird mit Geflüchteten geprobt Foto: Speicherbühne

von Jens Fischer

Noch ein Flüchtlingsprojekt! Ganz unschuldig geboren aus dem irritierten Überschwang 2015. „Die Grenzen in Europa waren volle Schaluppe offen“, so Regisseurin Astrid Müller, „und wir dachten, huch, was bedeutet das für uns? Wollen wir das? Wer kommt da?“ Die Antwort stand vor der Haustür.

Denn in der Speicherbühne, wo Müller mit Akteuren des Westend-Theaters arbeitet, befindet sich ein kostenloser WLAN-Hotspot. Deswegen sammelten sich dort regelmäßig Geflüchtete aus den benachbarten Zelt-Notunterkünften „Überseetor“ und „Am Kaffeequartier“. Draußen war es novemberkalt, drinnen geheizt. Also öffneten die Theaterleute ihre Türen und luden einmal wöchentlich auch offiziell zur Teestunde.

Was ging? „Wir haben zusammen gegessen und geredet, auf Deutsch, Arabisch, Kurdisch, Farsi, Englisch, mit Händen, Füßen und mit Hilfe der kleinen Übersetzungsmaschinen im Internet.“ Sie hätten festgestellt, wie unterschiedlich die Definitionen von Tugenden, Tabus und Toleranz sind und wie sehr die Haltungen zu Freiheit und Demokratie differieren. Nebenher organisierten die Theaterleute Sprachunterricht und halfen bei dem Formularkram.

„Dass wir unser Deutschland und Bremen dabei neu erfahren konnten, verdanken wir der Perspektive der Geflüchteten“, heißt es in einer Pressemitteilung. Deswegen sprechen die Künstler auch von „gegenseitiger Integration“ in der Teerunde der Christen, Muslime, Atheisten und grundsätzlichen Religionsskeptiker. Müller: „Bei all unseren Ausflügen und Einladungen habe ich aber auch schnell deutlich gemacht: Bei mir gibt es nicht nur Würstchen. Theaterleute sind saugende Wesen.“ Sie binden alle und alles in ihre Arbeit ein.

Solche persönliche Begegnungen auslösen beim Publikum wie sie Müller und Co. mit den Migranten erlebt haben, ist nun die Idee hinter dem „Ach so!“-Projekt, das gerade diese Woche der Workshop-Phase entwächst. Serviert werden soll ein „Figuren-Theater-Comic“ als Gastmahl. Bis zu 35 Besucher dürfen sich über ein Vier-Gänge-Menü freuen. Zwischen Ab- und Aufdecken kommen die sechs teilnehmenden Syrer, Kurden, Armenier und Afghanen mit an den Tisch: sitzen also zum Kennenlernen bereit. Stehen aber auch immer mal wieder auf und spielen auf Englisch, Deutsch und Arabisch mit sechs deutschen Schauspielern kleine Szene aus ihrem Alltag des Ankommen- und Dazugehörenwollens.

Aus gemeinsamen Erfahrungen entsteht Empathie. Multikulti-Utopie im Theater? Nein, eher Skepsis

Zudem werden O-Ton-Interviews mit den Geflüchteten eingespielt und live übersetzt sowie Gegenüberstellungen inszeniert: Der dickbäuchig blonde Klischeedeutsche lauscht dem Getratsche über Ängste und Vorurteile gegenüber den und dem Fremden – Syrer tratschen über ihre Vorstellungen und Hoffnungen, die sie mit Deutschland verbinden. Dazu erklingen frisch komponierte Lieder zum Thema. Schließlich soll eine Märchenerzählung die Moral von all den Geschichten vermitteln. „Anschließend werden wir es nicht verhindern, wenn dann wie bei den Proben unter Anleitung eines kurdischen Tanzlehrers gefeiert wird“, so Müller.

Sich begegnen, austauschen, gemeinsame Erfahrungen machen – so entsteht Empathie. Eine multikulturelle Utopie? Eher Skepsis. Gelesen hatten die Theatermacher vorab „Ein Araber und ein Deutscher müssen reden“, ein E-Mail-Dialog von Juxautor Hans Rath und dem AfD-affinen Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad. Der auf der Bühne nun aber nicht so enden soll wie die Fortschreibung des Diskurses: „Der islamische Faschismus“ wird in Frankreich nicht veröffentlicht, da Abdel-Samads Verlag Angst vor Anschlägen hat und meint, im aktuellen soziopolitischen Klima sei eine friedliche Diskussion über islamkritische Thesen nicht möglich. Diese tatsächlich beängstigende Stimmungslage wird in „Ach so!“ ausgeklammert. Redaktionsschluss war halt noch in Zeiten der behaupteten Willkommenskultur. Weswegen auch eine riesige Angela-Merkel-Puppe die Besucher umarmen wird. Die müssen am Eingang durch eine hohle, ­schmale Gasse schreiten, flankiert von zwei rappelnden Kartons, aus denen unsichtbare Menschen herauswinken. Stark behaarte, dunkelhäutige Arme und ihre nordeuropäisch bleichen Pendants. Wer gibt wem die Hand?

Die Proben sind nicht nur harmonisch. Müller: „Ich habe immer gesagt, hier geht es gemischtgeschlechtlich zu, wer das nicht möchte, kann nicht mitmachen.“ Das Ergebnis: Alle Nichteuropäer auf der Bühne sind männlich. Eine Afghanin, die zu den Treffen gekommen war und als Sängerin dabei sein sollte, verweigerte das: Muslima dürften sich so nicht öffentlich präsentieren. „Sowie Männer im Raum waren, lachte sie nicht mehr gerade heraus, sondern hielt sich dabei die Hand vorm Mund“, so Müller. „Bei den syrischen Jungs muss ich als Chefin schon die Ärmel aufkrempeln und Ellenbogen zeigen, auch um Respektlosigkeiten gegenüber Frauen nicht durchgehen zu lassen.“ Die eher horizontalen Hierarchien künstlerischer Arbeit waren nicht anwendbar. „Die Geflüchteten kommen aus streng autoritär funktionierenden Kulturen, verlangen also klare Ansagen.“ Und Terrorismus war wirklich kein Thema? Müller: „Unsere Syrer hatten Angst in den Massenunterkünften vor einigen Landsleuten, die sie dem Daesch zuordneten.“ Und sie selbst sind nicht radikalisierbar? „Die sind aus solcher Not, mit solchen Sehnsüchten hierhergekommen, so warmherzig, haben so viel auf sich genommen, aber wenn es nun nicht klappt mit Arbeiten, Geldverdienen, Integration, sondern Perspektivlosigkeit zur Realität wird, dann lege ich meine Hand für keinen ins Feuer.“

„Ach, so“ läuft am 3., 4, 10. und 11. September. Reservierungen unter kontakt@speicherbuehne.de oder 0421-3800946