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Bremen-Nord wird eingemeindet

Akus­tik-Of­fen­si­ve Am 20. Au­gust be­ginnt in Bre­men der drei­wö­chi­ge Aus­nah­me­zu­stand: das bis in die Niederlande ausstrahlende Mu­sik­fest. Das bringt diesmal auffallend viele Spätwerke und bezieht außerdem einen bislang nicht bespielten Stadtteil ein

Strahlt mit dem Musikfest-Auftakt um die Wette: der ehrwürdige Bremer Dom Foto: Ingo Wagner/dpa

Von Hen­ning Bleyl

Das Bre­mer Mu­sik­fest 2016 trägt aus­ge­präg­te Züge eines Spät­werks. Damit ist weder ge­meint, dass Fes­ti­val-In­ten­dant Tho­mas Al­brecht die­ses Jahr sein nun­mehr 27. Pro­gramm vor­legt, in be­währ­ter Mi­schung aus dem Pu­bli­kum be­reits ver­trau­ten Künst­le­rIn­nen und neuen Ge­sich­tern – noch, dass das Fes­ti­val selbst in die Jahre ge­ra­ten sei. Son­dern der Um­stand, dass auf­fallend viele der in die­sem Jahr 37 Ein­zelpro­gram­me von Wer­ken ge­prägt sind, die kurz vor dem Tod der je­wei­li­gen Kom­po­nis­tIn­nen ent­stan­den.

Da ist zum Bei­spiel das Kla­ri­net­ten­quin­tett in h-Moll von Jo­han­nes Brahms, das die­ser 1891 kom­po­nier­te – nach­dem er sein künst­le­ri­sches Schaf­fen ei­gent­lich schon für be­en­det er­klärt hatte. Mit An­dre­as Ot­ten­sa­mer, dem So­lo-Kla­ri­net­tis­ten der Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­ker, ist dafür zwar ein be­son­ders ju­ve­nil wir­ken­der In­ter­pret en­ga­giert, doch im sel­ben Kon­zert, das gleich zu Be­ginn des drei­wö­chi­gen Fes­ti­vals im Gro­ßen Saal der Bre­mer­ha­ve­ner Han­dels­kam­mer auf­ge­führt wird, ist auch Schu­berts Streich­quar­tett „Der Tod und das Mäd­chen“ zu hören. Schu­bert schrieb es als 27-Jäh­ri­ger. Vier Jahre spä­ter je­doch war er tot.

Henry Pur­cell starb mit 35, hin­ter­ließ aber, zu­min­dest als Torso, die groß­ar­ti­ge Se­mi-Ope­ra „The In­di­an Queen“, die zum Ab­schluss des Mu­sik­fes­tes von Mu­si­cae­ter­na auf­ge­führt wird. Und das in der Neu­fas­sung von Peter Sel­lars und der ni­ca­ra­gua­ni­schen Schrift­stel­le­rin Ro­sa­rio Agui­lar, die den po­li­ti­schen Cha­rak­ter des Ba­rock­werks deut­lich her­ausar­bei­tet. Pur­cell schrieb, ver­packt in eine zeit­ty­pi­sche Lie­bes­ge­schich­te, eine zeit­un­ty­pi­sche Kri­tik an der Aus­beu­tung der „neuen Welt“.

Ri­chard Strauss hin­ge­gen war po­li­tisch an­ders ori­en­tiert und auch schon 84, als er seine „Vier letz­ten Lie­der“ kom­po­nier­te. Das war 1948. Der Zwei­te Welt­krieg war noch nicht lange vor­bei, Strauss’Kar­rie­re als Prä­si­dent einer ein­schlä­gi­gen NS-In­sti­tu­ti­on schon etwas län­ger – der „Reichs­mu­sik­kam­mer“, deren Auf­ga­be es war, die von Deutsch­land be­an­spruch­te Vor­macht­stel­lung in der Welt kul­tu­rell zu le­gi­ti­mie­ren. Die Ur­auf­füh­rung der „Letz­ten Lie­der“ über­nahm 1950 Strauss’damali­ger Stell­ver­tre­ter in der Reichs­mu­sik­kam­mer, der be­rühm­te Di­ri­gent Wil­helm Furt­wäng­ler.

Das alles macht die Musik frei­lich nicht we­ni­ger hö­rens­wert – zumal von der Be­set­zung mit der US-So­pra­nis­tin Jac­que­lyn Wag­ner und dem Ber­li­ner Rund­funk-Sin­fo­nie­or­ches­ter unter Vla­di­mir Ju­row­ski, der auch noch „Also sprach Za­ra­thus­tra“ di­ri­giert, eine her­aus­ra­gen­de In­ter­pre­ta­ti­on zu er­war­ten ist.

Neben his­to­ri­schen Di­men­sio­nen lässt sich das ak­tu­el­le Mu­sik­fest-Pro­gramm, mit der Land­kar­te in der Hand, auch unter an­de­ren Ge­sichts­punk­ten mit Ge­winn lesen. Denn es ist, geo­gra­fisch be­trach­tet, ein ve­ri­ta­bles Wachs­tumsfor­mat. In nord-öst­li­cher Rich­tung ge­mein­det es ge­le­gent­lich sogar Ham­burg ein. Nach Wes­ten hin ist das nie­der­län­di­sche Gro­nin­gen seit ge­rau­mer Zeit ein Teil des Fes­ti­vals.

In bei­den Fäl­len ist es vor allem die Exis­tenz der dor­ti­gen Arp-Schnit­ger-Or­geln, die den in­halt­li­chen Un­ter­bau für den geo­gra­fi­schen Über­sprung bilden. Das Arp-Schnit­ger-Fes­ti­val ist eine spe­zi­el­le Pro­gramm­schie­ne des Mu­sik­fes­tes, das den Spu­ren des be­rühm­ten Ba­rock­or­gelbau­ers durch Nord­west­deutsch­land folgt. Da Schnit­ger, via Lis­s­abon sogar nach Bra­si­li­en lie­fer­te, ist eine ent­spre­chen­de Er­wei­te­rung des Mu­sik­fes­tes Bre­men in trans­at­lan­tisch süd­west­li­cher Rich­tung ei­gent­lich nur noch eine Frage der Zeit – be­zie­hungs­wei­se der pro­gram­ma­ti­schen Ent­schie­den­heit. Bre­men-Nord hin­ge­gen hat sol­chen in­stru­men­ta­len Reich­tum nicht zu bie­ten – und wird daher auch erst jetzt ins Bre­mer Mu­sik­fest in­te­griert.

Bre­men-Nord? Das ist die Stadt am Rande der Stadt, das an­de­re Bre­men – jenes, das vom Zen­trum aus ge­se­hen jen­seits der Lesum liegt. Die wie­der­um ist Deutsch­lands zweit­kür­zes­ter Fluss – lang genug je­doch, zwei Wel­ten von ein­an­der zu schei­den. In der Nord-Bre­mer Welt leben im­mer­hin so viele Men­schen, dass sie schon für sich al­lein den Sta­tus einer Groß­stadt in An­spruch neh­men könn­ten – und nun sind auch sie end­lich Teil des Bre­mer Mu­sik­fes­tes.

Neben historischen Dimensionen lässt sich das aktuelle Musikfest-Programm, mit der Landkarte in der Hand, auch unter anderen Gesichtspunkten mit Gewinn lesen. Denn es ist, geografisch betrachtet, ein veritables Wachstumsformat

Zwei fran­zö­si­sche Spit­zen­kräf­te sind es, die Fes­ti­val-In­ten­dant Al­brecht zur Ex­pe­di­ti­on in die bis­he­ri­ge bin­nen­bre­mi­sche Terra in­co­gni­ta schickt: Der Cel­list Gau­tier Capuçon und Frank Bra­ley, der 1978 eine Wun­der­kindkar­rie­re be­gann, die noch immer nicht zu Ende ist. Noch öfter als mit Gau­tier Capuçon tritt der Pia­nist Bra­ley zwar mit Gau­tiers äl­te­rem Bru­der Ren­aud auf – doch Kam­mer­mu­sik-af­fin sind alle Gau­tiers in höchs­tem Maß.

Was die Nord-Bre­mer und ihre in­ner­städ­ti­schen Mit­bür­ger zu hören be­kom­men, ist Beet­ho­ven’sche Kam­mer­mu­sik ers­ter Güte: Das gilt ins­be­son­de­re für die bei­den F-Dur-So­na­ten für Cello und Kla­vier von Beet­ho­ven. Der hatte sie dem Preu­ßen­kö­nig Fried­rich Wil­helm II. ge­wid­met, dem Cel­lo spie­len­den Nach­fol­ger des Tra­vers­flö­ten-Kö­nigs Fried­rich II. So viel roya­ler Ver­weis muss sein, da das Kon­zert de­mons­tra­tiv im Bür­ger­haus Ve­ge­sack statt­fin­det.

Der de­mons­tra­ti­ve Ver­weis, den die Bre­mer Kul­tur­ver­wal­tung mit die­ser Orts­wahl zum Aus­druck brin­gen möch­te, ist frei­lich ein an­de­rer. Er lau­tet: Seht und hört, hier steht ein mit viel öf­fent­li­chem Geld auf ein hohes akus­ti­sches Ni­veau ge­brach­ter Saal. Und dass die „Eu­ro­pa­-Cho­r­-Aka­de­mie“, deren Be­dürf­nis­se ein wich­ti­ger Grund für den auf­wen­di­gen Aus­bau des Saa­les waren, in In­sol­venz-Tur­bu­len­zen ge­riet, macht des­sen pro­mi­nen­te Plat­zie­rung auf der Agen­da eines hoch re­nom­mier­ten Fes­ti­vals umso wich­ti­ger.

Fes­ti­valpro­gram­me sind in stär­ke­rem Maß Seis­mo­gra­fen ver­schie­dens­ter struk­tu­rel­ler Ent­wick­lun­gen als ge­mein­hin an­ge­nom­men wird. Dar­über hin­aus sind sie Ge­le­gen­hei­ten. Nie, wie in den drei Wo­chen des Mu­sik­fes­tes, ist das noch immer ein biss­chen cal­vi­nis­tisch, also nur ein­ge­schränkt welt­lich-mu­si­ka­lisch ge­präg­te Bre­men, eine der­ar­ti­ge Mu­sen-Hoch­burg. Dazu ver­hel­fen der Stadt nicht we­ni­ger als 975 Künst­le­rIn­nen.

Ti­ckets und Pro­gramm unter www.musikfest-bremen.de

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