Berliner Szenen
: Offene Fenster

Unterm Milchwald

Ich versuche wegzuhören und habe ein schlechtes Gewissen

Der kleine Garten hinter meinem Berliner Wohnhaus ist im Sommer Ersatz für den fehlenden Balkon. Wenn es nicht regnet, sitze ich fast jeden Abend auf einer Bank, lese und werde dabei zum unfreiwilligen ­Zeugen von allerlei privaten Szenen aus den Nachbarswohnungen. Sommerzeit ist Zeit der offenen Fenster. Je heißer es ist, desto mehr hat man das Gefühl, einer Inszenierung von Dylan Thomas’ „Unter dem Milchwald“ beizuwohnen. Dessen Untertitel lautet: Ein Spiel für Stimmen.

Ich versuche wegzuhören und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich lausche, ohne etwas dafürzukönnen. Auch wenn man nur Gemurmel hört, kriegt man doch ein ziemlich gutes Gefühl für die innere Verfasstheit der nachbarlichen Haushalte: Wer sich beim Abendessen verträgt. Wo heftige Worte fallen, nachdem eine Weinflasche mit lautem Plopp geöffnet wurde. Welche Kinder nicht ins Bett wollen. Wo man regelmäßig Gäste hat oder seine Abende mit endlosen Telefonaten verbringt. Fernsehen tut offenbar niemand mehr, außer wenn EM ist.

Manchmal versteht man aber doch was. Zum Beispiel, wenn, wie gestern Abend im Nachbarhaus, eine Beziehung zu Ende geht. Es beginnt mit einer aggressiven Frauenstimme, die ihre Lautstärke langsam so steigert, dass ich schließlich jedes Wort verstehe: „Du Arsch, meine Mutter hat mich immer vor dir jewarnt. Recht hat se jehabt.“ Ein Geräusch, das wie ein zerspringender Teller klingt. „Und ick hab dich Wixa noch verteidigt.“ Klirr. „Ick war so blöd!“ Klirr.

Ich denke mir das nicht aus. Im Hintergrund hört man eine quengelige Männerstimme, die aber gegen diesen Ausbruch keine Chance hat. „Du verpisst dich jetzt.“ Das folgende Klirren klingt nach Glas. „Ick will dich nie wiedasehn.“ Danach ein Rumpeln wie von umstürzenden Möbeln, gefolgt von Stille. Tilman Baumgärtel