Wahlkampf mit der Sicherheitspolitik

Frankreich Einer der Täter des Anschlags in der Normandie war den Behörden bekannt. Die Opposition bezichtigt nun die Regierung, versagt zu haben – in neun Monaten sind Präsidentschaftswahlen

Die bewachte Kirche am Tag nach der Geiselnahme und dem Mord in Saint-Etienne-du-Rouvray Foto: Pascal Rossignol/reuters

Aus Paris Rudolf Balmer

Beim jüngsten Attentat in Frankreich haben schon die Wahl des Opfers, eines weit über achtzigjährigen Priesters, und der symbolische Ort schockiert: eine Kirche. „Nie hätten wir gedacht, dass der Terrorismus von Daech [IS] bis zu uns kommen könnte“, sagte eine Bewohnerin von Saint-Etienne-du-Rouvray in der Normandie. Noch weniger hatte sie sich wohl vorgestellt, dass einer der beiden Angreifer, der erst 19-jährige Adel K., der Sohn von Nachbarn war. Schnell war bekannt, dass dieser im letzten Jahr zweimal vergeblich versucht hatte, nach Syrien zu gelangen, und dass er der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt war und deswegen in Untersuchungshaft saß.

Wie war es möglich, dass ein wegen seiner Radikalisierung und dschihadistischen Absichten bekannter junger Mann seit März auf freiem Fuß war und so die Möglichkeit hatte, in Frankreich selbst zuzuschlagen? Das sorgt für viel Empörung und nährt die Vorwürfe an Justiz und Staatsführung. Die Opposition zögert nicht, diese Stimmung mit wahlpolitischen Hintergedanken für sich zu instrumentalisieren.

Hat die Justiz in diesem Fall jämmerlich versagt, wie die Kritiker sagen? Man weiß nun, dass es Adel K. gelungen war, die Antiterror-Untersuchungsrichterin von seiner Reue zu überzeugen. Die Staatsanwaltschaft widersetzte sich zwar seiner Freilassung, doch das Pariser Berufungsgericht sah keinen hinreichenden Grund, ihn bis zu seinem Prozess in Haft zu halten. Zudem war seine Entlassung mit einer strikten polizeilichen Kontrolle verbunden: Er musste eine elektronische Fußfessel tragen, seine Papiere abgeben und durfte die Wohnung in Saint-Etienne-du-Rouvray nur vormittags verlassen.

Mit diesen Auflagen gelang es zwar, ihn daran zu hindern, erneut zu versuchen, sich dem Dschihad in Syrien oder im Irak anzuschließen – wie mehrere zum Teil bekannte französische Dschihadisten aus dieser Region um Rouen. Die Planung und Ausführung eines Angriffs auf die Kirche an seinem Wohnort aber konnte damit nicht verhindert werden.

Expräsident Nicolas Sarkozy fordert, dem Volk „die Wahrheit“ zu sagen

Aus diesem Grund bringen das Attentat und der Hintergrund des Täters die gesamte Sicherheitspolitik und namentlich den Umgang der Behörden mit ihnen bekannten Sympathisanten des radikalen Islamismus aufs Tapet. Und die Opposition scheut sich nicht mehr, dies als Skandal der heutigen Staatsführung auszuschlachten. Von der breiten gesellschaftlichen Solidarität nach dem Angriff auf Charlie Hebdo und den anderen Attentaten im November ist nach dem jetzigen Anschlag nichts mehr übrig. Im Gegenteil bezichtigt die Opposition die Regierung, versagt zu haben. Besonders perfide ist es, wenn in diesem Zusammenhang Expräsident Nicolas Sarkozy, der aus seiner früheren Erfahrung als Innenminister um alle Schwierigkeiten weiß, die Staatsführung auffordert, dem Volk „die Wahrheit“ zu sagen – womit er suggeriert, dass etwas verheimlicht werde. Am Tag des Attentats hatte er bereits erklärt: „Die juristischen Spitzfindigkeiten und Vorwände zur Rechtfertigung des Ungenügens sind nicht zulässig.“

Wie die meisten seiner Parteikollegen verlangt er, dass vor allem besonders gefährliche Verdächtige – auch wenn diese noch keine Delikte begangen haben – eingesperrt werden. Dies wäre in Frankreich aber klar verfassungswidrig. Schon die verhängten Notstandsgesetze setzen gewisse individuelle Bürgerrechte teilweise außer Kraft. Weiter will die Staatsführung nicht gehen. Innenminister Bernard Cazeneuve belehrte darum Sarkozy ziemlich scharf: „Die Respektierung der Verfassung ist keine ‚juristische Spitzfindigkeit‘!“ Und Staatspräsident François Hollande erklärte ebenfalls: „Wir werden die Bürger mit den Waffen des Rechtsstaates beschützen.“ Diese erscheinen aber vielen seiner Landsleute nicht mehr ausreichend.