Kritik der Woche: Phillipp Böhm über das Radio Bremen Hörspiel „Aus dem Fenster“ von Torsten Körner: Eine nahezu krampfhafte Verblüffung
Vielleicht gehören sie einfach zum Inventar deutscher Vor- und Kleinstädte: diese Leute, die Tag für Tag ihre Straße beobachten, die Arme auf ein Kissen gestützt. Das Klischee kleidet sie oft in Feinrippunterhemden, um ihre Verlotterung zu betonen. Auch der Erzähler aus Torsten Körners Hörspiel „Aus dem Fenster“ kennt sie: „Würde man die Beobachtungen dieser Alltagswächter einsammeln, gäbe das ein tolles Buch.“ Er versucht sich an diesem Buch, sammelt jedoch keine fremden Beobachtungen, sondern seine eigenen: Ein Jahr lang schaut er aus dem Fenster, verfolgt die Bewohner einer namenlosen Straße in Berlin-Friedenau mit seinen Blicken und dichtet ihnen Geschichten an.
Er sieht „Kindersoldaten“ mit Maschinengewehren, ein Gruselkabinett von drei Schwestern, sogar eine Zwangsräumung und einen „Wagen des Bestatters mit kältester Fracht“. Ein paar Meter weiter steht eine Seniorenfreizeitstätte, wo Elvis-Imitatoren auftreten und schreckliche Musik läuft. Beziehungen versanden, Träume platzen, „Callcenter-Bengels“ machen Alteingesessenen das Leben schwer: All das registriert er und verwandelt es in sprachlich geschliffene Miniaturen, allesamt penibel mit Datum und Zeitangabe versehen.
Als handelnde Figur taucht er so gut wie nie auf, er steht über den Dingen als „Typ ohne Unterleib“ und kommuniziert hauptsächlich mit seinem Fenster. Das bildet nicht nur im doppelten Sinn den Rahmen der wachsenden Textflut, sondern wird im Verlauf des Hörspiels mehr und mehr zum konkurrierenden Subjekt der Handlung: Es entdeckt Facebook, schreibt Haikus und läuft auch schon mal vor Scham an.
Gerade in solchen Passagen befindet sich „Aus dem Fenster“ in nicht allzu entfernter Verwandtschaft zu Texten wie „Le Paysan de Paris“ von Louis Aragon, in dem die Alltagsbeobachtung ebenso etwas Traumähnliches erhält. Die literarische Ahnenreihe des Hörspiels wird nicht verheimlicht, sondern tritt konzentriert in einer Figur auf: dem wechselnd dreirädrigen oder vierrädrigen Surrealisten mit Pflegestufe eins, der immer wieder von seinen Begegnungen mit Samuel Beckett berichtet. Und so wie Körner vom Surrealismus die fantastische Alltäglichkeit übernimmt, leiht er von dem irischen Schriftsteller die Angewohnheit, seine Figuren wie bizarre Puppen tanzen zu lassen: Da geht unter dem Fenster ein „Effizienzdenker“ vorüber, der sich jeden Tag „wie eine Zitrone“ auspressen will und sich dann wundert, „wie ähnlich er ihr sieht“. Da ist Monika von der anderen Straßenseite, bei der der Erzähler nie so richtig weiß, wie er an ihr vorbeigehen soll. Jeder Mensch ist ein Mängelexemplar.
Die kurzen Abschnitte wirken beim ersten Hören eher gewuchert als konstruiert. Tatsächlich jedoch sind sie stark auf die Pointe hin geschrieben, ein manchmal geradezu krampfhafter Wille zur Verblüffung durchzieht alle Notizen.
„Bilanzfälscher sind die wahren Poeten in unserem Literaturviertelchen“, berichtet der Erzähler und findet einige Zeit später, Freitag könne auch mal was misslingen. „Ich geh mal scheitern“, verkündet er und hofft auf „einen Untergang, der mir steht“. Manche Einfälle in der Assoziationskette sind tatsächlich schön, etwa die Idee, in einem Briefkasten, der nicht mehr geleert wird, wohne ein „trinkfester Kobold“, der „das Leben dechiffriert“.
Spätestens aber, als sich der Erzähler Scheuklappen kauft, um seine „zerebralen Aktivitäten“ zu steigern und sich Pressemeldungen über seine „Windowleaks-Plattform“ ausdenkt, wird das Problem dieses Hörspiels deutlich: Wo alle Beobachtungen nur als Sprungbrett in assoziative Höhen dienen, verlieren sie irgendwann ihre eigentliche Bedeutung als Momente einer Erzählung.
Die auftretenden Personen bleiben Puppen, ausgepresst wie der „Effizienzdenker“. Dabei hätte man eigentlich gern mehr über sie erfahren. Fraglich ist, ob die äußere Form des Hörspiels etwas Anderes zugelassen hätte. Die zusammenhangslosen Einfälle des Straßenvoyeurs jedenfalls werden bald ermüdend, auch weil ihnen eine emotionale Gleichförmigkeit zu eigen ist. „Wollen Sie dieses Fenster wirklich schließen?“, fragt nach Monaten der Beobachtung am Ende der Erzähler. Und als Antwort bleibt nach fast einer Stunde eher ein „Ja, eigentlich schon“ zurück. Vielleicht könnte man stattdessen aber ein anderes öffnen.
Ursendung: Sonntag, 17.05 Uhr, Nordwestradio
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