Protokolle Was ist ein Mikroroman? Gute Frage. Sudabeh Mohafez hat gleich drei davon geschrieben – und Peter Weiss lässt schön grüßen
: Wo bleibt der Kutscher?

„Gleich ertrinkt einer!“ Der Zeichner Anton Rittiner nennt sich Rittiner & Gomez Illustration: Rittiner & Gomez

von Moritz Müller-Schwefe

Die kleine Form hat es Sudabeh Mohafez angetan. „zehn zeilen“ hieß der Blog, den die 1960 in Teheran geborene, heute in Deutschland lebende Autorin zwischen 2007 und 2013 führte. Zehn Zeilen, das hieß für die ehemalige Bachmannpreis-Teilnehmerin „max. zehn minuten schreiben, max. zwei mal überarbeiten, max. 852 zeichen“. So streng die Form, so vielfältig der Inhalt. In unregelmäßigen Abständen entstanden Hunderte Anekdoten, Erzählungen und Reiseberichte, zehnzeilige Texte aus dem Alltag und von unterwegs. Einige von ihnen fanden 2010 Eingang in das „Zehn-Zeilen-Buch“, veröffentlicht im Dresdner Independentverlag Edition Azur. Ebenfalls dort ist „Kitsune“, Mohafez’ neuer, mit wunderbaren Aquarellen des Schweizer Künstlers Anton Rittiner versehener Band erschienen. Und während sich der Titel des Buchs noch einigermaßen zügig als das japanische Wort für Fähe oder Fuchs herausstellt, bereitet die darunter angegebene Gattungsbezeichnung „Drei Mikroromane“ schon mehr Pro­ble­me.

Was ist ein Mikroroman? Die Recherche gestaltet sich nicht ganz einfach. Fündig wird man überraschenderweise nicht zwischen Twitteratur, Facebookromanen und -postsammlungen. Fündig wird man ausgerechnet bei Peter Weiss, der im November dieses Jahres 100 Jahre alt geworden wäre. Seine 1960 erschienene, mit eigenen Collagen illustrierte Erzählung „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ nannte er einen „Mikro-Roman“. Und bezeichnete damit weniger den Umfang als den Stil der Erzählung, der nicht ohne Grund mit dem des Nouveau Roman verglichen wurde. Denn in Weiss’ Erzählung berichtet ein namenloser Icherzähler auf etwa einhundert Seiten minutiös von seinem Aufenthalt in einer ländlichen Pension, von der Umgebung, den anderen Gästen. Über sich selbst, seine Vergangenheit, seine Pläne und den Grund seiner Anwesenheit verliert der Mann kein Wort. Er beobachtet, protokolliert, unentwegt. Bis der Kutscher kommt.

„Wir beobachten das Haus“, beginnt der erste der jeweils etwa vierzigseitigen Mikroromane aus „Kitsune“, „es ist ein eigenartiges Haus, in dem eigenartige Dinge geschehen.“ Doch eigenartig ist, man ahnt es, vor allem die Perspektive, aus der hier berichtet wird. Wer ist dieses „wir“? Zu keiner Zeit erfährt man Konkretes über die Beobachtenden, die tagein, tagaus das gegenüber liegende Haus in den Blick nehmen und alle Geschehnisse detailliert zu Protokoll geben. Mit ihnen und durch sie blickt auch der Leser auf das Haus, links die Aquarelle, rechts der Text. Jeden Tag ist es ein anderes. Denn je nach Tageszeit, Anzahl der Bewohner und deren Miteinander wächst oder schrumpft das Haus.

Oder? Iwan, ein junger Mann, in dem der einzige direkte Kontakt der Schauenden zur Außenwelt besteht, hält die Beobachtungen der Erzähler für Hirngespinste. Also alles nur Einbildung? Trotz der übergenauen Schilderungen? Zu wem soll man halten? Verraten die Aquarelle mehr als der Text? Und wessen Wirklichkeit, wessen Wahrnehmung bilden sie eigentlich ab? Die Stärke von Mohafez’ Texten und dem Zusammenspiel mit Rittiners Bildern liegt genau in diesen Fragen; in der Herausforderung des Lesers, die sowohl in der Erzählperspektive als auch auf der Handlungsebene liegt, wie neben dem zweiten auch der dritte Mikroroman des Bands zeigt.

„In der Ferne die Felsen“ handelt von einer Gruppe Namenloser, die sich auf einer Insel wiederfinden, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen sind. Sie finden eine Hütte, die alles bereithält, was sie zum Leben brauchen. Und: Sie werden beobachtet. Denn auch in dieser Geschichte tritt so ein rätselhaftes „Wir“ auf, mit dessen Einführung die Erzählperspektive wechselt; verschwunden ist der auktoriale Erzähler des Auftakts: „Wir beobachten sie“, heißt es fortan, „betrachten ihre ruhigen Bewegungen, ihr stilles Tun.“ Doch „ein Hauch von Ungeduld macht sich in uns breit“. Zu gern würden die Beobachtenden ein wenig Action erleben. Doch die drei Namenlosen schlafen lange. Trinken Wein, essen Käse und Brot. Gehen schwimmen und sammeln Muscheln, starren tagelang in den Regen. Das „Wir“ scharrt mit den Füßen. „Gleich ertrinkt einer!“, hofft es, als die drei einmal in Ekstase geraten, aus der Hütte und dem Meer entgegenrennen, „gleich haben sie Sex im Schlamm! Gleich werden sie vom Blitz erschlagen!“

Doch nichts davon geschieht. Und es wird klar: Das „Wir“ sind die Leser, wir, die wir ungeduldig auf einen Höhepunkt dieser Geschichte warten, auf die Ankunft des Weiss’schen Kutschers, zu der es nicht kommt. Stattdessen stehen „wir“ der verunsichernden Stille dieser Insel gegenüber, der Stille der Beschreibungen und Bilder, dieser eigenartigen, vermeintlich kleinen Form von Text in diesem überraschend „großen“ Band, der unsere Lese- und Sehgewohnheiten ins Wanken bringt.

Sudabeh ­Mohafez, Rit­tiner & ­Gomez: „Kitsune. Drei Mikroromane“.Edition Azur, 132 Seiten, 21,90 Euro