der rote faden
: Frankreich im Anti-Sommerloch.
Nizza nonstop

durch die woche mit

Harriet Wolff
und Andreas Rüttenauer

Pokémon Go

Es ist natürlich nicht nur ein Spaß. Das Phänomen „Pokémon Go“ hat natürlich eine problematische Komponente. Gut ist, sagen die einen, dass Kinder endlich zum Computerspielen an die frische Luft gehen. Schlecht ist, sagen die anderen, dass niemand weiß, wer alles erfährt, wo man sich mit seinem mobilen Gerät gerade aufhält, um animierte Tierchen zu jagen. Es gibt ein Datenschutzproblem, von dem viele glauben, dass es ein Sommerlochproblem sein könnte. Das Sommerloch dauerte dann nicht allzu lange. Es kam Nizza.

Mit Frankreich hatte die Woche begonnen. Noch einmal wurde über die EM gesprochen. Über den Nicht-Europameister Frankreich und den Ein-Mann-Europameister Cristiano Ronaldo. Und darüber, dass außer russischer, englischer und kroatischer Rumhoolerei nichts wirklich Schlimmes passiert ist. Vor allem Ronaldo hatte es den Menschen angetan. Mit der Menschwerdung einer Tor- und PR-Maschine wäre manch einer sicher gut über den Sommer gekommen. Doch dann kam Nizza.

Ronaldo

Frankreich war in dieser Woche schon mal ganz schön witzig. Was haben wir gelacht über die Kosten für die wohlgelegte Frisur des Präsidenten. Fast 10.000 Euro! Und so mancher wollte die irrwitzige Gage für den Figaro so lesen, als sei sie ein Sinnbild für das kriselnde Land. Es wäre auch ein schönes Sommerthema gewesen. Beim Rouge lässt es sich gut schwadronierend von Hölzchen auf Stöckchen kommen, von den streiksüchtigen Gewerkschaften über Manuel Valls, den Front National, das Arbeitsgesetz zu Asterix und Obelix. Schenk mir nochmal nach, die spinnen doch, die Franzosen! Und Nizza?

Über die Sicherheit in Frankreich ist in dieser Woche schon vor Nizza laut nachgedacht worden. Die Zuschauer bei der Tour de France sind nicht zu bändigen. Einem haut der Christopher Froome, der Träger des Gelben Trikots, den Ellenbogen ins Gesicht. Ein anderer bedrängt die Fahrer und das Begleitmotorrad so sehr, dass es zu einem Sturz kommt. Das Gelbe Trikot joggt zum Ziel und es wird darüber nachgedacht, wie die Fahrer besser zu schützen seinen. Über die Sicherheit der Tour wird an diesem Tag gesprochen, auch darüber, dass dieses Event eigentlich noch schwerer zu schützen ist, als es die EM mit ihren punktuellen Großereignissen war. Als die Fahrer am Freitag zum Einzelzeitfahren aufgebrochen sind, wurde nur noch über Nizza gesprochen. Die 13. Etappe der Tour fand trotzdem in der Ardèche statt, die „Werbekarawane passierte lautlos die Strecke“, wie die dpa trocken tickerte.

Tour de France

Social media also as usual, auch nach Nizza. Augenzeugen werden mit jedem weiteren Anschlag zu noch professionelleren Terror-Berichterstattern. Bizarr. So gesehen in einem Video der liberalen französischen Boulevardzeitung Le Parisien, in dem eine Ferien und Feiern ausströmende blonde Dame eindringlich und wortreich die Ereignisse von Donnerstagnacht beschreibt. Das Kamerateam hat sie am Rande der Promenade des Anglais postiert, hinter ihr rollen die blauweißen Leihfahrräder der Touristenhochburg Nizza, jemandem fällt sein Handy herunter, einer dreht sich eine Kippe und die Sonne strahlt. Business as usual. Es geht weiter, und in Berlin werden zwei Schülerinnen und eine Lehrerin vermisst, die am 14. Juli in Nizza waren.

Kreativer Beinsteller

Aus Bordeaux meldet sich der konservative Bürgermeister Alain Juppé zu Wort und inszeniert sich als Bewahrer der öffentlichen Sicherheit, schließlich möchte auch er ins Rennen um die französische Präsidentschaftswahl 2017 gehen. Juppé fantasiert von „wenn alle Maßnahmen ergriffen worden wären, wäre Nizza nicht passiert“ und man fragt sich: welche Maßnahmen? Ausgangssperre am französischen Partyfeiertag schlechthin? Lähmung oder gleich Komplettstillstand des öffentlichen Lebens? Oder vorab eine erkennungsdienstliche Überprüfung aller Kleinkriminellen, die eine Fahrerlaubnis der Grande Nation für einen Lkw besitzen?

Populismus ist das, was Juppé betreibt, und darunter fällt auch die eilige Einberufung der Reservisten der französischen Gendarmerie, so gut sie auch von Staats wegen gemeint sein mag. Im Dunkel von Nizza verblassen Volksbelustiger wie der Brite Boris Johnson und sein wundersames Comeback als Außenminister. Obwohl, wundersam? Vielmehr ein geschickter Schachzug Theresa Mays, den notorisch kreativen Beinsteller einzuhegen. Kabinettsdisziplin, you know. Wie weit die in Berlin greift, wenn sich Innensenator Frank Henkel nochmal vor Gericht blamiert, wird sich zeigen.

Die Wellen an der Promenade von Nizza brechen sich derweil am oft steinigen Strand. Zu sehen auf viewsurf.com.