Alter vor Schönheit

Am Altern scheitern, an der Ehe scheitern, am Sex scheitern: Wilhelm Genazino hat ein Theaterstück geschrieben, die Darmstädter Uraufführung nimmt ihn zu sehr beim Wort

Die Zeit ist ungnädig. Sie lädt Falten, Tränensäcke und Krampfadern ein, sich auf den Körpern niederzulassen. Wenn man Wilhelm Genazino und seinen Figuren glaubt, ist es eine Qual, alt zu werden. Vor allem weil in „Lieber Gott mach mich blind“, seinem ersten Theaterstück, das hysterische Wissen um den eigenen Verfallsprozess schon mit 30 beginnt und mit 60 keineswegs in Altersweisheit umgeschlagen ist.

Es sind fünf Personen, die Genazino in der Figurenliste seines Stücks nur über ihr Alter, die Verwandtschaftsbeziehung und die Attribute „schlank“ oder „nicht schlank“ charakterisiert. Und diese Vorankündigung ist programmatisch, denn jeder Einzelne dieses Quintetts ist besessen von der eigenen makelhaften Körperlichkeit. Martha und Iris, alte Freundinnen im doppelten Wortsinne, beklagen den Verlust ihrer Jugendgesichter, beraten Maßnahmen gegen Marthas alltägliche Schweißausbrüche und Iris’ teigigen Teint und bestätigen sich gegenseitig ihr abstoßendes Äußeres. Auch Andreas, Marthas Sohn, und Robert, ihr Mann, sind der eigenen Hässlichkeitsbezichtigung nicht abgeneigt. Den ultimativen Selbstekel nimmt jedoch Schwiegertochter Teresa für sich in Anspruch, die beim Einkaufen scheitert, weil sie sich im Spiegel erblickt und zu erkennen glaubt, „dass es auf der ganzen Welt keine Bluse gibt, die mein Gesicht mildert“.

Sie alle treffen sich bei der Uraufführung am Staatstheater Darmstadt in der hellblauen, quadratisch schicken Wohnlandschaft von Stelios Vasikaridis. Mit Blick auf die Skyline einer Großstadt, vielleicht Frankfurt, sitzen sie in geschmeidigen Polstern der Designergarnitur und ekeln sich. Das ist ein bisschen wie „Warten auf Godot“, nur das Letzterer bei Genazino Robert heißt und tatsächlich auftaucht: Ein heimkommender Büroarbeiter im Nadelstreif, der nach sieben Stunden Tagesgeschäft keine Menschen mehr um sich erträgt, besonders wenn es sich um die eigene Familie handelt.

Genazino hat seinen Text zwischen Konversationsstück und absurdem Theater angesiedelt. Henri Hohenemser hat ihn in Darmstadt wortgenau umgesetzt. Er lässt seine Schauspieler gekonnt lakonisch parlieren, eine eigene Interpretation versucht er nicht. Stattdessen hält er sich an die Statik der Vorlage und lässt sich von Genazinos Beiläufigkeit dazu irreleiten, das Ganze bieder realistisch aufzuführen. In seiner Prosa beschreibt der Büchnerpreisträger und Theaterneuling immer wieder eine große Sympathie für Langweile. Hohenemser, so scheint es, hat das Werk des Autors in dieser Hinsicht eingehend studiert und nimmt ihn beim Wort. Er inszeniert das Zusammentreffen der Figuren als bürgerlichen Ego-Clash. Das hat den Charme einer Vorabendserie, nur dass die Sätze von Genazino in ihrer Bitterboshaftigkeit so gut zitierbar sind.

Die Angst vorm Altern entpuppt sich dabei als Luxusneurose und Potenzproblem, denn um wenig Zwischenmenschlichkeit geht es dann doch. Teresa wird Andreas verlassen, und Iris möchte ihre alte Affäre mit Robert wiederbeleben. Doch der Ehebruch ist ganz unaufregend zum Scheitern verurteilt. Die Alterssexualität, die Genazino den Protagonisten seiner Romane immer noch gönnt, muss im Theaterstück der Ermattung weichen. „Eine Perversion wäre das Einzige, was uns retten könnte“, sagt Robert, „aber für eine Perversion sind wir beide zu schlicht im Denken.“ Er inspiziert die Körper von Iris und Teresa, doch mehr als technisches Interesse entsteht dabei nicht.

So bleiben die Figuren isoliert beieinander. Ihre grotesken Körper sind Sprachgebilde, die physische Realität ist erstaunlich gewöhnlich. Vor diesem Hintergrund ist ihre Selbstverachtung bemitleidenswert, tragisch ist sie allerdings nicht. Vielmehr ist es die scheinbar unvermeidliche Einsamkeit dieser Egomanen inmitten ihrer Wohlstandspolstergarnitur, die sanftes Unbehagen hervorruft. Zumindest das ist alterslos. KRISTIN BECKER