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Spezialanfertigungen des Alltags

Die Profis des internationalen Kunstbetriebs treffen sich schon seit Jahren am Goldenen Horn. Was neu ist: Dieses Jahr stößt die Istanbul Biennale auch im eigenen Land auf ein überwältigendes Interesse. Bei der gezeigten Kunst dominieren verspielte Verfremdungen von Medien- und Alltagsbildern

VON BRIGITTE WERNEBURG

Die kleinen Zeichnungen, die Dan Perjovschi gerne auf große leere Wände malt, scheinen sich wie ein Virus zu verbreiten. Kaum stachen sie noch in Berlin aus dem Kunstmessenangebot hervor, ist der rumänische Künstler auch hier, im Bilsar Haus in Istanbul, erkennbar tätig geworden. Per Sprechblase behauptet das Wort „Kebap“, es sei Republikaner, wozu das benachbarte Wort „Burger King“ nur verdrossen schweigen mag. Für seine stets tagesaktuellen öffentlichen Kommentare macht Perjovschi wenige Striche und wenige Worte. Die aber sitzen. Szenen und Personal der internationalen Politik, ganze Stadtlandschaften, Kriegsgerät und krakelige Stichmännchen klettern ungelenk die Wände hoch; die Zeichnungen bilden Girlanden, sie mokieren sich über sich selbst und die Welt, die natürlich nicht rund, sondern ein leeres Viereck ist, das „run out of credit“ sagt.

Großen Kredit dagegen genießt Kunst wie die seine. Jedenfalls in Istanbul, wo sich die Besucher im Bilsar Haus drängen, wie auch in den weiteren Gebäuden, die die 9. Internationale Istanbul Biennale beherbergen. Nach vier Wochen Laufzeit kommen die Leute noch immer in Massen. Und steckt man nicht mit ihnen im Stau der Ausstellung, dann sieht man sie in den Straßen, wie sie mit dem kompakten Band des Biennale-Führers unterm Arm mehr oder minder zielgerichtet auf den nächsten Ausstellungsort zusteuern. Anders als in früheren Jahren stammt ihre Mehrzahl nicht aus dem Ausland. Sie zählen also nicht zu den üblichen Verdächtigen, den Profis aus dem Kunstbetrieb, den Kunstfreunden, wie sie im jungen Förderkreis der Kestnergesellschaft zu finden sind, mit dem Veit Görner, der Direktor des Hauses in Hannover, einen Kurztrip nach Istanbul unternahm; und es handelt sich nicht um die üblichen Touristen, die auch noch diesen Event mitnehmen. Nein, in der Überzahl drängen sich hier arrivierte bürgerliche Paare, vor allem aber junge Menschen aus der Türkei, darunter viele Studenten. Dieses große Interesse an der Biennale im eigenen Land ist neu und hat dazu geführt, dass die Besucherzahl gegenüber der letzten Biennale um mehr als 50 Prozent gestiegen ist.

Vielleicht verkörpert genau diese Entwicklung das „Istanbul“, das der 9. Biennale ihren Titel gibt, obwohl sie für die Kuratoren Vasif Kortun, Direktor des Garanti-Zentrums für zeitgenössische Kunst in Istanbul, und Charles Esche, Direktor des Van-Abbe-Museums in Eindhoven, nicht vorauszusehen war. Sie dürfen sich den Erfolg dennoch auf ihre Schultern heften. Ganz offensichtlich erkennt sich Istanbul in ihrem „Istanbul“ wieder. Auf acht Orte hat sich die Biennale dieses Mal zerstreut. Touristische Leuchttürme wie die Hagia Sofia oder das dramatische Dunkel der justinianischen Zisterne aus dem Jahr 532 ließen sie links liegen. Diese Bauwerke aus Istanbuls großer Vergangenheit betteten die letzten Biennalen in ein großartiges Ambiente, dem die Kunst freilich oft nicht gewachsen war. Sie findet sich jetzt in einem kleinen Depot am Hafen oder einem ehemaligen Tabaklager in Viertel Tophane, in dem Drogen zur Alltagskultur gehören und das angeblich selbst Polizisten meiden. Sie wird im 1882 erbauten Garibaldi-Haus des italienischen Arbeitervereins von Istanbul in der Istiklal Caddesi gezeigt, der berühmten Flanierstraße von Beyoglu, oder in einem heruntergekommener Gründerzeit-Palast an einer verkehrsreichen Straßenschneise. 2008 wird die Istanbul Foundation for Culture and Arts, der private Träger der Biennale, das Haus mit Blick aufs Goldene Horn beziehen.

Noch aber hängen die Tapeten von den Wänden, von denen auch der Putz bröckelt. Gegen diesen Ruin richtet selbst Servet Koçygits automatische Kehrmaschine nicht viel aus. Die aufwändige Installation des 1971 in Istanbul geborenen Künstlers besteht aus einer an der Decke angebrachten Schiene, auf der ein kleiner Motor entlang fährt. An einem Faden zieht er eine zum Kehrbesen umgearbeitete Langhaarperücke hinter sich her. Ein Kühlschrank steht offen, und eine Schrift an der Wand sagt: Manchmal überprüfe ich den Kühlschrank zehnmal, um sicher zu sein, dass er wirklich geschlossen ist. Hausfrauenparanoia, die Paulina Olowska wohnlich weiter pflegt. Die polnische Künstlerin, Jahrgang 1976, hat drei Zimmer mit Teppichen ausgelegt. Zunächst als Gemälde entworfen, wurden sie dann in der traditionellen Art des türkischen Teppichs gefertigt. Auch hier scheint Auf- oder Hinterherräumen nötig. Denn schaut man nach unten, sieht man Mobiltelefon, Handtasche und Schuhe im Teppich eingeknüpft auf dem Boden liegen, so als hätte sich jemand beim Heimkommen schnellst möglich der lästigen Kleidungsstücke und Accessoires entledigt und einfach hinter sich fallen lassen.

Was aber schlägt Olowskas Arbeit wie die von Phil Collins im Stockwerk darunter oder Ola Pehrsons Multimedia-Installation im Bilarsi Haus, mit solcher Ähnlichkeit? Der 1970 geborene britische Künstler mit dem Namen eines großen Stars älterer Bauart hat nicht nur Istanbuler Fans der Musikgruppe The Smiths zu deren Album von 1987 „The World Won’t Listen“ Karaoke singen lassen, was nun ein Video dokumentiert. In einer weiteren Arbeit, die Pressekonferenz, Interviews und Fotoshooting vereint, beschäftigt er sich mit den Teilnehmern diverser Reality-Shows des türkischen Fernsehens, die sich in Istanbul zum Erfahrungstausch trafen. Auch Ola Pehrson, ein schwedischer Künstler, arbeitet noch einmal auf, was es schon gibt: die Dokumentation „Hunt for the Unabomber“. Dafür baut er Szenen im Modell nach, um sie erneut zu filmen. Die Modelle, Flugzeuge, Briefkästen, Häuser, Figuren, Landschaften füllen einige Regalmeter und verwandeln den Ausstellungsraum in ein buntes Kinderzimmer, in dessen Zentrum wie üblich der Fernseher läuft, hier freilich mit seinem Remake des originalen Films.

Angesichts von Jon Mikel Eubas Video „One per Minute. 10 Minutes in Istanbul“, in dem der spanische Künstler Jugendliche aus der Stadt einlud, Bühnenposen von Rockstars nachstellen, glaubt man schließlich ein Schema dieser und vieler anderer Arbeiten zu erkennen. Die zeitgenössische Kunst gefällt sich als Spezialanfertigung derjenigen Bilder, die der Alltag ohnehin liefert. Und diesen Charakter der Spezialanfertigung stellt sie auch besonders heraus. Die Anregung, den so verfremdeten Alltag neu oder kritisch zu sehen, fällt eher nebenbei ab. Für diesen Aspekt ist die Haltung gegenüber den vorgefundenen Bildern zu apologetisch und die Kunst zu pompös, zu selbstverliebt, verspielt, wort- und materialreich. Ihre jungen Produzenten, oft aus Südosteuropa, der Türkei und dem Nahen Osten, flankieren bekannte und verlässliche Größen wie Nedko Solakov, IRWIN, Pawel Althammer, Lukas Duwenhögger und Maria Eichhorn. Dass ihre Herangehensweise die jungen Künstler in der Zusammenschau konformer erscheinen lässt, als womöglich in ihrem individuellen Umfeld wahrzunehmen, stellt sich so deutlich vielleicht nur in der Kritikerperspektive dar. An sich scheinen sie durchaus unbekümmert um die institutionellen und kommerziellen Ansprüche der Kunstwelt zu Werke zu gehen. Das Kuratorenteam gibt ihnen dafür viel Raum, und es trägt durch die stets übersichtlich geführte Ausstellungssituation weiter dazu bei, dass die einzelnen Arbeiten zur Geltung kommen.

Natürlich bilden die Urbanisten unter den Künstlern aufgrund des Themas eine starke Fraktion. Ihre Ausstellungsarchive mit Modellen, Videos, Tabellen und beigelegte Readern sind ein inzwischen gewohnter Anblick. „Flying City“ allerdings, einer koreanischen Künstlergruppe gelingt es mit ihrem „Alle-Dinge-Park“ eine besonders chaotische Version zu präsentierten. Zugegebenermaßen in der Absicht, die Interessen aller Bewohner eines Sanierungsgebiets endlich in einem Stadtumbau zu berücksichtigten. Dem real existierenden Stadtum- und -neubau, der Bewohnerinteressen maximal berücksichtigt, hat Solmaz Shahbazi, 1971 in Teheran geboren, nachgeforscht. Sie ist in die Gated Communities von Istanbul vorgedrungen, wo sich das neureiche Geld in aufwändiger Architektur repräsentiert und Schutz vor unwillkommenen Besuchern braucht. Der immer gleiche Stil dieser internationalen Luxusarchitektur löscht jeden lokalen Bezug aus. Hier ist nicht mehr Istanbul, hier ist nur noch „Istanbul“.

Sind es womöglich diese Vorortbewohner, die am Sonntag mit ihren Geländewagen, ihren Audis und BMWs den riesigen Parkplatz füllen, der dem Istanbul Modern vorgelagert ist? Auch das neu eröffnete Museum für zeitgenössische Kunst, direkt am Bosporus in einer ehemaligen Lagerhalle untergebracht, ist ein Besuchermagnet. Es zeigt im Wesentlichen die Sammlung der Familie Eczacibasi, eine eher lehr- als kunstreiche Sammlung von Gemälden einheimischer Künstler, mit Werken aus dem späten 19. Jahrhundert bis heute. Immerhin wurde Rosa Martinez, Kuratorin der diesjährigen Biennale in Venedig, als Direktorin gewonnen. Sie eröffnete zur Biennale die Schau „Centre of Gravity“ mit einer soliden Auswahl tatsächlich zeitgenössischer Kunst, von Louise Bourgeois über Jeff Koons bis Ghada Amer und Monica Bonvicini. Über deren Treppe gelangt man auch ins Untergeschoss zu „Centre of Gravity“. Der mit Einschusslöchern übersäte Glaskasten, in den Bonvicini die Treppe an massive Stahlketten hängte, ist ihre Arbeit für die letzte Biennale, die im heutigen Museum ihren Hauptausstellungsort hatte. Jetzt belegt die Biennale im Hafengebiet von Karaköy ein kleineres Lagerhaus schräg gegenüber.

Doch das Areal erregt nicht nur bei den lokalen, sondern auch den internationalen Vorortbewohnern mit den teuren Wagen hohes Interesse. In einer öffentlichen Ausschreibung wurde es erst kürzlich für 49 Jahre an die Royal Caribbean Group verpachtet. Die Lager werden abgerissen, Fünf-Sterne-Hotels und ein Hafen für Luxus-Kreuzfahrtsschiffe sollen entstehen. 3,5 Milliarden Euro zahlt Royal Caribbean dem türkischen Staat. Istanbul wächst und prosperiert und wird dabei doch kleiner. Jedenfalls für die, denen „Istanbul“ am Herzen liegt.

Bis 30. Oktober. Ausstellungsführer plus Biennale-Pass 25 YTL, Theorie-Reader 25 YTL, www.iksv.org

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