Die Schulleiterin Seit vergangenem Jahr krempelt die neue Schulleiterin Andrea Franke die Willy-Brandt-Oberschule im Wedding um. Jeder dritte Schüler verlässt die Schule ohne Abschluss. Franke sagt, dass seien hier eben andere Bedingungen als an einem Charlottenburger Gymnasium. Sie scheut sich nicht davor, Schulschwänzern auch mal ein Bußgeld zu verhängen. Manch einem gilt sie damit als Hardlinerin
: „Morgens begrüße ich Zuspätkommer auch mal am Schultor“

„Man muss sich nicht als ohnmächtig begreifen, sondern als selbstwirksam. Das gilt in gleichem Maße für die Schüler, sie müssen sich als erfolgreich erleben“, sagt Schulleiterin Andrea Franke, „ich glaube, das ist zentral“

Interview Anna Klöpper
Fotos Ksenia Les

Andrea Franke mag klare Ansagen. Energisch klappert die Schulleiterin in ihren spitzen Pumps die paar Stufen von ihrem Büro im ersten Stock der Willy-Brand-Oberschule hinunter in ein nüchternes Besprechungszimmer. Es gibt Thermoskannen­kaffee und halbe Brötchen. Die Tischreihe an der Wandseite bedeckt eine Art überdimensionierte Collage aus bunten Aufklebern und Filzstift: der halbfertig gepuzzelte Stundenplan für das kommende Schuljahr. „Sie setzen sich und bedienen sich“, sagt Franke. Dann marschiert sie mit der Fotografin im Schlepptau auf der Suche nach dem geeigneten Hintergrund fürs Foto in Richtung Schulhof. Eine halbe Stunde später.

Andrea Franke: Das war mir jetzt aber unangenehm. (lacht) Die ganze Zeit so vor der Kamera, wenn man das nicht gewohnt ist … komisches Gefühl.

taz: Frau Franke, ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass Sie ein Problem damit haben, im Mittelpunkt zu stehen.

Franke: Ach ja?

Im Abgeordnetenhaus haben Sie vor einigen Wochen jedenfalls für Wirbel gesorgt. Da hatte man Sie zum Thema Schulabbrecher in den Bildungsausschuss geladen. Sie sind da als ziemliche Hardlinerin rübergekommen …

Also, da würde meine stellvertretende Schulleiterin jetzt aber lachen. Sie hat mir gesagt: Wenn einer nicht streng ist, dann Sie, Frau Franke.

Von der CDU gab’s jedenfalls Szenenapplaus, als Sie erklärt haben, dass Sie bei notorischen Schulschwänzern kein Pro­blem damit haben, ein Bußgeld zu verhängen – was das Schulgesetz zwar erlaubt, aber nicht vorschreibt. Oder dass Sie es durchaus für eine interessante Idee halten, wenn ein Berliner Schulleiter gemeinsam mit dem Ordnungsamt kiffende Schüler auf dem Schulhof zur Anzeige bringt.

Ich halte es für wichtig, Missstände klar zu benennen. Das tue ich vielleicht deutlicher als andere. Oft gibt es ja die Meinung, man möchte Negativzahlen nicht so nach außen tragen, weil dann die Eltern die Schule meiden. Aber ich glaube nicht, dass die Dinge besser werden, wenn man sie unter den Teppich kehrt.

Und dann begegnet man diesen Missständen wie? Mit dem Ordnungsamt und Bußgeldern?

Nein, so einfach ist das natürlich nicht. Wenn man vor allem Kinder aus weniger privilegierten Familien hat, braucht es zuallererst mal Wärme, Kreativität und Herz.

Das sagen alle. Deshalb gibt es schon lange sehr viele schöne pädagogische Konzepte, gerade für die sogenannten Brennpunktschulen – Berufsberatung, Tutoringprojekte, das Bonusprogramm des Senats, das diesen Schulen Extramittel etwa für zusätzliche Sozialarbeiter gewährt. Trotzdem liegt die Schulabbrecherquote seit Jahren bei knapp 11 Prozent, in Mitte und Neukölln ist sie fast doppelt so hoch.

Deshalb sage ich: Man darf eben auch nicht vergessen, dass zum Herz auch eine gewisse Konsequenz bei Verhaltensauffälligkeiten gehört. Man darf nicht wegschauen, die Dinge nicht laufen lassen.

Was sind denn Verhaltensauffälligkeiten an Ihrer Schule?

Schuldistanz ist vor allem ein Problem.

Sie meinen Schulschwänzer. In Berlin fehlte im letzten Schuljahr ungefähr jeder fünfte Schüler unentschuldigt.

Ja, ich würde sagen, da liegen wir ganz gut im Schnitt.

Und die Konsequenzen, von denen Sie sprachen?

Da gehen wir zunächst den bürokratischen Weg. Nach fünf unentschuldigten Fehltagen gibt es eine Schulversäumnisanzeige – und nach weiteren fünf Tagen eine Anhörung bei der Schulaufsicht. Ändert sich am Verhalten des Schülers trotzdem nichts, kommt das besagte Bußgeld. Da schöpfen wir dann schon die Möglichkeiten aus, die das Schulgesetz bietet. Aber bevor es so weit ist, passiert ja ganz viel: Es gibt Gespräche mit den Schülern, man versucht, die Eltern, das Jugendamt, die Schulpsychologen mit ins Boot zu holen. Neulich ist ein Kollege einem Schüler vom S-Bahnhof aus nachgelaufen, weil er sich gewundert hat, wo der morgens hin will, und hat ihn dann zur Schule gebracht. Die Eltern wussten nicht, dass ihr Sohn die Schule schwänzt. Bei einigen Schülern rufen wir die Eltern täglich an: „Ihr Kind ist nicht in der Schule angekommen.“

Die Willy-Brandt-Schule und ihre Leiterin

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Die Schulleiterin: Andrea Franke, 1972 in Spandau geboren, wohnt mit Mann und drei Kindern „draußen“, wie sie sagt, in Klein-Machnow: „Eine andere Welt. Mein Ausgleich.“ Franke unterrichtete zuvor am Schiller-Gymnasium, eine Staatlichen Europaschule, und am Sophie-Charlotte-Gymnasium, beide im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf.

In der erweiterten Schulleitung am Sophie-Charlotte-Gymnasium war sie vor allem für Schulentwicklungsprozesse zuständig, außerdem war sie für die Ausbildung von Referendaren zuständig. An der Freien Universität Berlin hat sie einen berufsbegleitenden Master Schulentwicklung und Qualitätssicherung absolviert. „Powerfrau“ steht auf ihrem pinken Schlüsselanhänger: „Den haben mir meine Kinder geschenkt.“

Willy-Brandt-Oberschule: Die Integrierte Sekundarschule liegt in der Grüntaler Straße im Weddinger Ortsteil Gesundbrunnen. Das Motto der Schule und vielleicht auch der rund 500 SchülerInnen, 57 LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, SonderpädagogInnen und LesepatInnen: „Arbeit ist der Umweg zu allen Genüssen.“ Gesagt hat‘s Willy Brandt. (akl)

Das ist viel persönlicher Einsatz, das kostet Kraft.

Ja, aber es wird sich auszahlen: Das kann man an dieser Schule zwar noch nicht in erfolgreichen Abschlüssen messen, aber im vergangenen Jahr hat sich die Stimmung an der Schule verändert.

Was meinen Sie damit?

Wissen Sie, ich stelle mich mitunter morgens mit unseren Sozialarbeitern selbst vors Schultor und begrüße Zuspätkommer persönlich. Die merken natürlich, dass mein Lächeln mit jeder Verspätungsminute schwindet – und das ist ihnen dann auch peinlich, wenn sie von der Schulleiterin so begrüßt werden. Gerade weil wir die Schüler sonst sehr ernst nehmen, ihnen ein Vertrauen entgegenbringen, das spüren sie, das wollen sie nicht enttäuschen. Auf der Beziehungsebene kriegen Sie hier jeden Schüler. Wenn ich anfange von Respekt zu sprechen, dann merke ich: Das zählt was bei ihnen.

Grenzen setzen, aber die Schüler dabei miteinbeziehen?

Absolut, darum geht es. Wir haben die Schüler zum Beispiel gefragt, wie sie sich ihren Unterricht vorstellen: Wann könnt ihr gut lernen, wie wollt ihr euren Schultag strukturieren? Daraufhin haben wir zum kommenden Schuljahr unseren Stundenplan, die Pausenzeiten, den Unterrichtsbeginn morgens, umgestellt. Auch unsere Schulregeln haben wir zusammen mit den Schülern erarbeitet. Dieses Ernstnehmen ist wichtig, man muss den Schülern zuhören können. Wollen Sie noch mehr hören?

Nur zu.

Wir haben jetzt für die achten Klassen einen Lernrat eingeführt. Wenn jemand zum Beispiel merkt, er kommt im Unterricht nicht mit, sollen nicht nur zwei, drei Lehrer darüber befinden, was jetzt passiert, sondern der Schüler soll selbst entscheiden können: Wer von den Kollegen, den Sozialarbeitern oder auch den Mitschülern – das ist dann der Lernrat – soll ihm helfen, und wie könnte das gehen. Ich halte das für einen ganz wichtigen Aspekt: Kinder müssen sich selbstwirksam fühlen.

Wie reagiert denn das Kollegium auf so viel Veränderung?

Klar, wenn man neu ist, ist da erst mal Skepsis. Eine Kollegin hat zu mir am Anfang gesagt: Wissen Sie, wir brauchen Sie hier gar nicht.

Warum hat sie das gesagt?

Das habe ich sie dann auch gefragt. Veränderung ist ja auch immer anstrengend, an manches muss man sich erst gewöhnen. Meine Stellvertreterin und ich haben zum Beispiel eingeführt, dass wir die Kollegen regelmäßig im Unterricht besuchen.

Das ist ja auch ein wenig Druck, den Sie dem Kollegium da machen.

Es geht darum, ins Gespräch zu kommen, und zwar auf Augenhöhe: über Unterrichtsentwicklung, über Klassenraummanagement. Ich bin der Meinung: Jeder kann sich noch irgendwo verbessern. Und Sie können noch so viele Akteure an der Schule haben: Wenn die Unterrichtsqualität nicht stimmt, nützen Ihnen auch mehr Ressourcen nichts. Zum anderen: Es mag zwar anstrengend sein, sich zu hinterfragen, aber im End­effekt gibt es einem Luft zum Atmen.

„Wir sind keine Brennpunktschule, ich mag diesen Begriff nicht – wir sind die Willy-Brandt-Oberschule“

Wie meinen Sie das?

Weil die Kollegen gemerkt haben, wie gut es tut, wenn man sich mal nicht nur über Fehlstunden von Schülern unterhält, sondern über den Unterricht. Das kann tatsächlich Spaß machen. Weil die Kollegen merken: Das ist ja meine Schule, an der ich tatsächlich etwas drehen und wenden kann. Man muss sich nicht als ohnmächtig begreifen, sondern als selbstwirksam. Das gilt natürlich in gleichem Maße für die Schüler, auch sie müssen sich als erfolgreich erleben. Ich glaube, das ist zentral. Das ist das, was ich mit der angesprochenen Atmosphäre meinte, die sich an unserer Schule langsam entwickelt.

Und die Lehrerin, die am Anfang so skeptisch war? Hat sie ihre Meinung geändert?

Sie hat neulich gesagt, wie sehr ihr diese Rückmeldungen inzwischen Sicherheit geben. Die Voraussetzungen hier sind ja nicht gerade einfach: Wir haben mitunter auch mal Kinder in der siebten Klasse, die Deutsch quasi nur rudimentär als Fremdsprache beherrschen. Falls Sie mal eine Sprache gelernt haben: Das wäre dann in etwa Niveau A1. Wir haben deshalb für alle Kinder künftig auch drei Stunden in der Woche reserviert, in denen ausschließlich Sprach- und Sprechunterricht stattfindet: Rhetoriktraining etwa.

90 Prozent Ihrer SchülerInnen haben einen Migrationshintergrund, genauso viele sind lernmittelbefreit, das heißt, das Jobcenter übernimmt das Büchergeld. 2015 fielen in der neunten Klasse 77 Prozent durch die Prüfung zur Berufsbildungsreife …

Das sind die jetzigen Zehntklässler. Und von denen haben 67 Prozent einen Schulabschluss geschafft. Das ist eine klare Veränderung. An den fehlenden 33 Prozent arbeiten wir intensiv, diese Zahl wird in den nächsten Jahren kleiner werden. Wir haben in sehr kurzer Zeit schon viel geschafft und machen weiter!

Der Begriff Brennpunktschule ist ein bisschen populistisch, aber er passt schon, oder?

Ich mag diesen Begriff nicht. Wir sind auch keine Brennpunktschule – wir sind die Willy-Brandt-Oberschule. Wie ich schon gesagt habe: Die Zahlen über Schulabschlüsse sind das eine, aber der immense Einsatz, den das Kollegium für jeden einzelnen Schüler hier aufbringt, ist das andere.

Aber an Ergebnissen wird man gemessen, Sie auch.

Wie gesagt: Unsere Arbeit hier wird sich auch bei den Schulabschlüssen niederschlagen, davon bin ich überzeugt. Aber so etwas braucht Zeit. Die muss man Schulen auch lassen – damit sie sich ausprobieren können und Ideen wirken können. Aber diese Bereitschaft zur Krea­ti­vität muss man dann haben. Wenn man die nicht hat, hilft es auch nichts, wenn die Politik zusätzliche Ressourcen in die Schule schiebt. Auch wenn das manche Kollegen vielleicht nicht gern hören.

Andrea Franke über Strenge

„Wenn man vor allem Kinder aus weniger privi­legierten Familien hat, braucht es zuallererst ­Wärme, Kreativität und Herz. Aber zum Herz gehört auch eine gewisse Konsequenz bei Verhaltensauffälligkeiten. Man darf nicht wegschauen“

Wenn wir schon bei der bedingten Aussagekraft von Zahlen sind: Beschreiben Sie doch mal Ihre Schüler, wer sind die?

Das sind alles sehr liebenswerte, individuelle Lebenskünstler hier – deren Fähigkeiten aber nun mal nicht immer unbedingt in Mathematik und Deutsch liegen. Man muss ja auch mal die Bedingungen sehen, unter denen viele dieser Kinder lernen sollen. Da sind häufig viele Geschwister, und da gibt es kein eigenes Zimmer, in das man sich zum Hausaufgaben machen zurückziehen könnte. Das sind hier ganz andere Voraussetzungen als zum Beispiel an einem Gymnasium in Charlottenburg.

Man könnte ja einen Hausaufgabenraum an der Schule einrichten. Es gibt im Kiez Projekte, die Hausaufgabenbetreuung anbieten.

Es ist aber auch etwas Grundsätzliches. Häufig fehlt den Eltern hier ein Grundverständnis dafür, das Bildung wichtig ist. Und zwar nicht nur der Schulbesuch, sondern auch ein guter Schulabschluss. Da müssen sich gute Schüler, die weiterlernen wollen fürs Abitur, eher noch in ihren Familien rechtfertigen, warum sie weiter zur Schule gehen wollen, statt Geld zu verdienen.

Eine bekannte Problematik. Haben Sie denn eine neue Idee, wie man das ändern könnte?

Es gibt die Idee, für die kommenden Siebtklässler eine Eltern-Kind-Klasse einzurichten, wo die Mütter, vielleicht auch mit kleinen Geschwistern, an ein oder zwei Wochentagen mit im Klassenraum säßen. Im Idealfall ist das dann auch gleich noch eine Art Sprachkurs für die Mütter, die ja häufig selbst nicht gut Deutsch sprechen.

Sie waren zuvor Lehrerin an einem Charlottenburger Gymnasium, da sind die Probleme weniger grundsätzlicher Natur. Warum jetzt der aufreibende Job im Wedding – Ihr persönlicher Ehrgeiz?

Ich bin ein Arbeitsmensch, ich mache mich gern nützlich. Und natürlich erlebe auch ich mich gern wirksam. Aber wo wir beim Vergleich mit dem Charlottenburger Gymnasium sind: Das ist ja das Reizvolle. Dass es hier um mehr geht als darum, überspitzt gesagt, ob bei einem Schüler der Notenschnitt bei 1,3 oder 1,4 liegt.