Generation EU Vor allem ältere Leute haben in Großbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Sie zerstören damit unsere Zukunft, finden viele Junge. Neun wütende Stimmen
: Fuck the Methusalemkomplott!

Zwei, die lieber dringeblieben wären: Unterstützer der Kampagne „Stronger In“, als sie das Ergebnis der Abstimmung am Freitagmorgen hören Foto: Rob Stothard/ap

Hat bald einen Stern weniger: die EU-Flagge, gestern in London Foto: Neil Hall/reuters

Und die ganzen Fördermittel?

Heute Morgen bin ich aufgewacht und war sofort wütend. Dann hatte ich Angst. Und seitdem mache ich mir eine Menge Sorgen.

Die britische Wirtschaft hat sich durch die EU prächtig entwickelt. Jetzt, wo wir austreten, frage ich mich, ob das so weitergehen wird.

Ich mach mir Sorgen um unsere Zukunft.

Ich bin ein freischaffender Filmemacher. Meine Kollegen und ich haben bisher viel mit Fördermitteln aus der EU gearbeitet.

Jetzt haben wir Angst, dass wir diese EU-Gelder verlieren werden.

Der Wahlkampf auf beiden Seiten wurde mit Angst geführt. Aber ich glaube, jetzt ist es wirklich Zeit, Angst zu haben.

Angst um unsere wirtschaftliche Zukunft.

Angst um unsere arbeitenden Familien.

Angst, die Arbeit zu verlieren.

Aber es ist nun mal passiert. Wir können es nicht ändern. Jetzt müssen wir unseres Bestes geben.

Es ist gruselig, aber wir kommen da schon durch – das machen wir immer.

Scott Stevens, 20, ist freischaffender Filmemacher und lebt in Devon.

Europa braucht ein soziales Gesicht

Es stimmt mich traurig, dass sich die Brexit-Befürworter mit ihrem billigen Populismus und ihren falschen Fakten beim Referendum knapp durchsetzen konnten. Ich befürchte, dass viele Menschen in Großbritannien diese Entscheidung noch bereuen werden. Doch vor allem eine Stimme für Europa war deutlich: Die jungen Menschen haben sich mit großer Mehrheit für unsere europäische Gemeinschaft ausgesprochen. Wir überzeugten Europäerinnen und Europäer müssen uns die Hand reichen und sollten nicht verzagen. Jenseits aller wirtschaftlichen Beziehungen müssen wir dabei vor allem das soziale Gesicht Europas stärken.

Natürlich gibt es in der Europäischen Union Reformbedarf – sie sollte solidarischer, bürgernäher und transparenter sein. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen, statt den Rechtspopulisten mit ihren nationalen Egoismen, ihrer Angstmacherei und ihren Hassparolen einfach das Feld zu überlassen. Den europäischen Zusammenhalt lassen wir uns als junge Generation jetzt erst recht nicht kaputtmachen.

Agnieszka Brugger,31, Grüne, in Polen geboren, ist Mitglied des Deutschen Bundestags

Sind wir noch willkommen?

Es ist ein erfolgreicher Tag für den Populismus in ganz Europa und ein trauriger Tag für die europäische Idee und die Werte, die diese Idee stützen. Der Brexit ist ein Sieg der Schreihälse und nicht der zukunftsorientierten Politik.

Es werden leider diejenigen die Konsequenzen tragen, die sich in Großbritannien als Europäer fühlen und die ihr Leben geografisch nicht begrenzen wollen. Gerade für junge Leute, die sich mehrheitlich Europa zugewandt haben, dürfte dies eine herbe Enttäuschung darstellen.

Ich bin in Montenegro geboren und habe in Deutschland studiert. Wenn man den Brexit aus der Perspektive des Westbalkans betrachtet, wird durch ihn die Unsicherheit weiter verstärkt, die die Bürger dort ohnehin schon spüren. Sie fragen sich, inwiefern die Europäische Union nun noch bereit ist, die Erweiterung voranzutreiben.

Der Erweiterungsprozess muss aber weiterverfolgt werden. Zwar muss er den Westbalkanstaaten viel abverlangen, aber die EU sollte eine klare Botschaft senden: Ihr seid – trotz Euroskepsis – in der EU herzlich willkommen.

Katarina Milacic, 27, ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet in der Politikberatung. Sie wurde in Montenegro geboren, kam aber vor vier Jahren zum Studieren nach Deutschland. Heute lebt sie in Berlin

Wir müssen eine neue Linke aufbauen

Ich bin tief enttäuscht. Vor allem aber bin ich wütend. Am allermeisten auf David Cameron, weil dieses Referendum gar nicht erst hätte stattfinden dürfen. Es hat zu einem tiefen gesellschaftlichen Riss geführt. Wir werden lange brauchen bis er heilt. Das Referendum ließ die spaltende Rhetorik der Politiker noch krasser werden. Sie nutzten die ganz realen Ängste der Menschen zynisch für ihren Erfolg aus. Das Referendum brachte das Schlechteste in unseren Medien hervor.

Ich versuche, nicht wütend auf „die Briten“ zu sein und auf die Leute, die für „Leave“ gestimmt haben. Ich weiß, dass es nicht sie sind, auf die wir uns jetzt stürzen sollten. Wenn du „beschämt“ bist oder sauer, dann richte deine Wut auf das politische Establishment und die Finanzeliten in Großbritannien.

Der Kern dieser Spaltung ist Ungerechtigkeit, sie ist größer als in den letzten hundert Jahren. Ich bin wütend auf die, die diese wachsende Ungerechtigkeit nicht stoppen konnten, die sich immer so eindeutig für den Neoliberalismus ausgesprochen haben, die nach dem Crash 2008 keine Bankenreform eingeführt haben, die keine innovative Arbeitsmarktpolitik geschaffen haben, die versagt haben bei der Bildung, beim Wohnungsmarkt, beim Gesundheitssystem und so weiter.

Ich bin nicht wütend auf die, die die Auswirkungen dieses Versagens zu spüren bekamen. Wer Angst hat und sich wegen der Einwanderung Sorgen macht, ist nicht gleich rassistisch. Ich bin wütend auf die, die diese Ängste ausnutzten. Ich bin wütend, weil die Linken nicht mehr getan haben, um die zu stoppen, die immer wieder Öl ins Feuer gossen. Ich bin wütend, weil wir uns keine differenzierte und ehrliche Debatte erlaubt haben. Ich bin wütend, weil wir das Potenzial der EU nicht besser kommunizieren konnten.

Wir müssen eine neue Linke aufbauen. Wir müssen Wege finden, um diese Spaltung zu heilen. Wir müssen kämpfen. Jetzt, jeden Tag.

Echo Collins-Egan, 28, lebt in London und ist Programm-Managerin

Brexit, Nexit, Frexit

Der Brexit zeigt nicht so sehr die Kluft zwischen den Generationen, sondern zwischen den Klassen. In Orten, wo viele Akademiker wohnen, wie Edinburgh, Oxford und Cambridge, waren im Schnitt 58 Prozent der Wähler für den Verbleib. In den Orten mit dem niedrigsten Akademikeranteil waren nur 39 Prozent dafür. Es war eine Abstimmung, in der ein kosmopolitisches und liberales Großbritannien dem sozial konservativeren Teil des Landes unterlag. „Blue collar Britain“ macht sich große Sorgen wegen unkontrollierter Immigration, für die es der EU die Schuld gibt. Das ist nicht irra­tio­nal, sondern logisch. Die unteren Schichten müssen mit Immigranten um Jobs und Wohnungen konkurrieren, während die oberen Schichten von billiger Arbeit und steigenden Immobilienpreisen profitieren.

Eines ist ganz wichtig zu begreifen: Diese „Blue-collar-Rebellion“ manifestiert sich in vielen EU-Ländern, vor allem in Frankreich und den Niederlanden. Im Frühjahr 2017 werden Geert Wilders und Marine Le Pen dort Wahlen gewinnen und versuchen, den „Nexit“ und „Frexit“ voranzutreiben. Die Pro-Immigrationspolitik der EU und die Tatsache, dass die EU allen ihren Bürgern gleiche soziale Rechte garantiert, haben dem Glauben, dass die EU für Wohlstand und Sicherheit steht, einen fatalen Schlag versetzt – in weiten Teilen der Arbeiterklasse. Die EU muss dringend aufwachen und der Angst der Arbeiter vor Massenmigration zuhören, oder das gesamte europäische Projekt wird scheitern. Und dann werden Rechtsextreme über ein zersplittertes Europa herrschen.

Joren Vermeersch, 34, hat Recht und Geschichte studiert und arbeitet als Ghostwriter in der belgischen Politik

Ich will keine Britin mehr sein

Ich bin Britin und lebe in der Türkei. Dort arbeite ich bei einer NGO, die sich mit der Syrien-Irak-Krise beschäftigt. Viele unserer Projekte werden mit EU-Mitteln finanziert. Als der EU-Türkei-Deal geschlossen wurde, brachte das alle, die in humanitären Organisationen arbeiten, in eine schwierige Situation: Wir akzeptieren das Geld, aber die EU bricht ihre Prinzipien der Solidarität. Seit diesem Deal bin ich skeptisch, was EU angeht.

Trotzdem hat die Entscheidung der Briten, die Europäische Union zu verlassen, mich heute traurig und wütend gemacht. Traurig, weil sie einen weiteren Sieg für Abschottung und Xenophobie bedeutet. Die Briten haben sich gegen ein Projekt entschieden, das Gegengift ist für den extremen Nationalismus, der uns in den Zweiten Weltkrieg geführt hat.

Wut, weil es schwer zu begreifen ist, wie ein Wahlkampf voller rassistischer Propaganda mehr als die Hälfte meiner Mitbürger überzeugen konnte. Ich habe Glück. Ich bin in Spanien aufgewachsen. Heute habe ich mich um eine spanische Staatsbürgerschaft beworben.

Maria del Mar Marais, 27, arbeitet bei einer NGO in Istanbul

Es wird Zeit für einen Neustart

Ich bin 22 Jahre alt. Kriege zwischen Deutschland und benachbarten Ländern kenne ich nur aus den Geschichtsbüchern. Ein vereintes Europa ist für mich immer selbstverständlich gewesen und alleine der Gedanke, dass diese Errungenschaft wieder aufgegeben werden könnte, lag mir bislang fern. Doch nun hat der Brexit deutlich gezeigt, dass die EU, dieses historische Friedensprojekt, keinesfalls einer Ewigkeitsgarantie unterliegt, sondern im Kern bedroht ist. Die EU wird nicht mehr nur mit Frieden, Freiheit und Wohlstand verbunden, sondern auch mit Bürokratie, Überregulierung und hohen Kosten. Das, was Genera­tio­nen vor mir einst für die Idee der EU begeistert hat, ist selbstverständlich geworden und genügt offensichtlich allein nicht mehr, um die Menschen davon zu überzeugen, dass wir gemeinsam stärker sind.

Diesem Empfinden, das europaweit von rechten und rechtspopulistischen Parteien ausgenutzt wird, müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten nun entschlossen entgegentreten. Es wird Zeit, der EU einen Neustart zu verpassen. Abschottung, Schlagbäume und Zölle sind für mich keine Alternative zu einem friedlichen, freiheitlichen und vereinten Europa. Jetzt wieder in Kleinstaaterei und nationale Egoismen zu verfallen, wäre ein historischer Fehler, den ich gegenüber den nächsten Generationen nicht verantworten möchte.

Dominik Erb, 22, ist stellvertretender FDP-Vorsitzender des Kreisverbands Gießen und studiert dort Jura

Ich bin wütend auf uns Politiker

Ich bin wütend über den Brexit. Aber nicht wegen der Wählerinnen und Wähler, die mehrheitlich eine für sie selbst und uns alle schlechte Entscheidung getroffen haben. Sondern wegen der Mehrzahl der Politikerinnen und Politiker. Weil es uns nicht gelungen ist, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit darüber, dass wir die Herausforderungen der Zukunft nicht mehr werden national lösen können. Dass unsere Souveränität eben nicht mehr allein in Westminster oder im Bundestag, sondern vor allem im Europäischen Parlament verteidigt wird.

Nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Deutschland und anderen EU-Ländern wird die europäische Politik seit Jahren als lästig und unfähig beschrieben, während die Unzulänglichkeiten nationaler Politik schöngeredet werden. Als Justizminister Maas jüngst stolz neue Regeln im Kampf gegen Menschenhandel verkündete, erwähnte er nicht mit einem Wort, dass diese eigentlich aus Brüssel stammen und die Bundesregierung sie eigentlich bereits drei Jahre zuvor hätte umsetzen müssen. Keine einzige Zeitung war in der Lage, diese Information unter die Leute zu bringen. Kein Einzelfall, sondern der alltägliche Wahnsinn in einer Europäischen Union, in der die nationalen Eliten in Kauf nehmen, dass diese großartige Idee immer weniger Menschen begeistert.

Jan Philipp Albrecht, 33, Grüner, ist stellvertretender Vorsitzender des Innen- und Justizausschusses im Europäischen Parlament

Wir ver­las­sen euch nicht!

Ich rief laut „Schei­ße“, als ich her­aus­fand, dass Groß­bri­tan­ni­en dafür ge­stimmt hatte, die EU zu ver­las­sen.

Ich bin 39 Jahre alt und habe mein hal­bes Leben in Eng­land ver­bracht. In Lon­don wurde ich zur Eu­ro­päe­rin, dort lern­te ich, was es be­deu­tet, mit Men­schen zu­sam­menzuleben, die an­ders sind als ich. Dort wurde ich an­ge­trie­ben, Macht zu hin­ter­fra­gen.

Heute fällt es mir schwer, zu glau­ben, dass „mein Groß­bri­tan­ni­en“ so ge­wählt hat. Aber ich muss wohl noch viel über die Bri­ten ler­nen. Ich dach­te, ihre Ver­ach­tung für Eu­ro­pa würde kurz vor dem „Leave“-Vo­tum auf­hö­ren. Aber jetzt wird mir klar, dass ich meine Freun­de aus Lon­don fälsch­li­cher­wei­se für einen Quer­schnitt der Ge­sell­schaft hielt.

Es ist er­schüt­ternd zu sehen, dass im Jahr 2016 – einer Zeit, in der viele un­zu­frie­den und un­si­cher sind – mehr als die Hälf­te der Wäh­ler ihren Glau­ben in Po­li­ti­ker set­zen, die Fik­tio­nen ver­kau­fen. Der EU die Schuld zu­zu­wei­sen geht nicht.

Lie­bes Groß­bri­tan­ni­en, wir sind eins. Du kannst die EU ver­las­sen, aber die EU ver­lässt dich nicht.

Sil­via Boari­ni,39, ist eine Jour­na­lis­tin aus Ita­li­en