„Im Herzen brennt der Schmerz“

Dokumente der Vernichtung 10 „Unternehmen Barbarossa“ – im Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Die taz dokumentiert zehn Tagebuch­aufzeichnungen von Zeitzeugen

Ein aus Lutsk geflohener Mann schreibt im Herbst 1942 in seinem Versteck im Wald einen Abschiedsbrief an seinen nach Palästina emigrierten Sohn. Handschriftlicher Brief von Chaim P. (vermutlich Chaim Princental) an seinen Sohn Jakob und dessen Frau Herna:

Heute, am 3. 9. 1942, zwei Wochen nach dem schrecklichen Massenmord in Lutsk und Umgebung. Zwei entsetzliche Wochen wandern wir, einige Juden, denen es gelungen ist, in letzter Minute aus Lutsk zu fliehen, irren von Ort zu Ort. Jede Minute lauert der Tod auf uns. Aus einem Wald heraus und in den anderen hinein. Wir sind zu Waldmenschen geworden. Zwei bis drei Tage sind wir ohne ein Stückchen Brot oder einen Tropfen Wasser. Die Augen sind völlig ausgetrocknet, im Herzen brennt der Schmerz und bedrückt es tödlich, und es gibt keinen Rat. Wir alle sind zum Tode verurteilt.

Mein lieber Sohn, nur Gott weiß, ob unser David noch lebt. Deine Mutter wurde wie eine heilige Taube zur Schlachtung geführt. Selbst gesehen habe ich es nicht, denn zu meinem großen Schmerz und Bedauern wollte es der Zufall, dass ich meine liebe Frau und meinen Sohn zurückließ und alleine fortlief wie ein Angsthase. Sie haben es jetzt schon besser als ich. Sie haben alles schon hinter sich. Ich aber erwarte, jeden Moment gefasst zu werden. Ich sitze in einem Erdloch in dem Wald, in dem Dein Großvater gelebt hat, und schreibe Dir, Euch, einen Abschiedsbrief.

Vielleicht wird das Schicksal doch nicht so grausam sein, und wenn der Krieg beendet ist, wirst Du ihn mit der Post erhalten durch die Hilfe eines anständigen Christen. Also, ich drücke Dich und Deine Frau an mein Herz und sende Euch meinen väterlichen Segen, bevor ich sterbe.

Dein unglücklicher Vater Ch. P.“

Aus: „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 8: Sowjetunion mit ­annektierten Gebieten I“. ­Dokument 192, Oldenbourg Verlag, München 2015