Brexit

Wenige Tage vor dem EU-Referendum wird in Großbritannien über den zunehmenden Hass in der politischen Kultur debattiert

„Inspirierend und ohne Hass“

Trauer Nach dem brutalen Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox ist das gespaltene Königreich wie selten vereint in seiner Ablehnung von Gewalt und Hass. Parteiübergreifend wird die Tote gewürdigt

LONDONtaz| Die Flaggen am Parlament und an den Regierungsgebäuden im Herzen von London wehen auf halbmast, sogar am Buckingham Palace, der Residenz der Queen. Stadtrundfahrtbusse halten am Par­liament Square mitten im tosenden Verkehr, damit Touristen Fotos machen können. Berge von Blumen und ein Meer von Kerzen wurden auf dem großen grünen Platz direkt gegenüber dem Eingang zum britischen Unterhaus ausgebreitet, in der Mitte das große Foto von einer strahlenden Jo Cox, der am Donnerstag brutal ermordeten 41-jährigen Labour-Abgeordneten.

Es ist die Zeit des nationalen Schulterschlusses gegen die Gewalt. Tausende von Menschen in zahlreichen Städten Großbritanniens kamen am Freitagabend zu Gedenkfeiern zusammen, mal offiziell, mal eher spontan. Der konservative Premierminister David Cameron reiste mit Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn und anderen Politikern in Cox’ Heimatort Birstall, eine Vorstadt der nord­englischen Metropole Leeds, und rief dazu auf, Hass und Intoleranz aus der britischen Politik zu verbannen. Cox stehe „für die beste Seite Großbritanniens“, schrieb Cameron am Sonntag in einem Zeitungsartikel: „ein Land von Anstand und Mitgefühl, das über sich hinauswächst, um die Welt zu verbessern“.

Auf einer großen weißen Gedenktafel im Parliament Square können Trauernde ihre Gefühle ausdrücken. „Inspiration“ ist das häufigste Wort. „Du wolltest eine bessere Welt – wir werden sie erschaffen“, steht da. Sie sei ein Vorbild gewesen, man wolle ihre Botschaft von Liebe und Solidarität weitertragen.

Selten sind die Worte des bekanntesten Kampfliedes der britischen Arbeiterbewegung, „The Red Flag“, in dem die rote Fahne „unsere toten Märtyrer“ umhüllt, so passend gewesen. Bei der improvisierten Gedenkfeier für Jo Cox auf dem Parliament Square am Freitagabend können viele ihre Tränen nicht zurückhalten, als plötzlich diese gesungenen Zeilen aus der Menge emporsteigen.

Viele hundert Menschen, über den Abend hinweg sicher Tausende, versammeln sich auf dem zentralen Platz, umsäumt vom tosenden Feierabendverkehr. Es ist eine sehr englische Trauer, zurückhaltend und still, ohne Choreografie. Wer hier herkommt, ist in sich gekehrt. Sogar die drei Trauerreden von Labour-Parlamentariern sind kaum zu verstehen, weil niemand daran gedacht hat, die Lautsprecheranlage richtig aufzudrehen. Jo Cox, sagt eine Rednerin, war die „Stimme der Stimmlosen“, sie war „brillant, leuchtend, liebend, umsorgend“. Sie stand für „Leidenschaft und Solidarität und Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit“.

Die Trauer um Jo Cox ist an diesem Freitag auch Gelegenheit für einen der selten gewordenen Auftritte von Ed Miliband, der Labour bei den Wahlen 2015 führte und nach seiner Niederlage zurücktrat. „Wir gedenken ihrer als Kämpferin für Gerechtigkeit“, sagt er, „als einer, die keine Angst hatte. Wir sind aber gekommen, nicht nur um an sie zu denken, sondern auch um ihr Erbe zu würdigen.“ Cox war furchtlos, und: „Sie trug nie Hass in sich.“ Aus Milibands Mund ist das wie ein Aufruf an die eigene Partei, wieder zu sich selbst zu finden. Unter dem neuen linken Parteichef Corbyn, mit dem sich Cox überworfen hatte, macht Labour vor allem durch innerparteiliche Grabenkämpfe von sich reden und spielt in der Brexit-Debatte kaum eine Rolle.

Am Montag tritt das Unterhaus, das eigentlich in den Parlamentsferien ist, zu einer ­Sondersitzung im Gedenken an Cox zusammen; möglicherweise werden die Abgeordneten sich vermischen, statt in Frak­tionen getrennt zu sitzen. Für die fällige Nachwahl in Cox’ Wahlkreis erwägt Labour, den Ehemann der Toten aufzustellen, den Aktivisten und humanitären Helfer Brendan Cox. Die Opposi­tionsparteien werden auf eigene Kandidaten verzichten.

Dominic Johnson