piwik no script img

Von sich selbst schwer ergriffen

Ungarn Erstmals seit Jahrzehnten qualifizierte sich Ungarns Team für ein internationales Turnier. Und steht nun in Gruppe F an der Spitze. Trainer Storck möchte die aggressiven Fans nicht kritisieren

Ungarische Fans in Marseille: typisch martialisch Foto: Eddie Keogh/reuters

Aus Marseille Johannes Kopp

Wer hätte das vor diesem Turnier auch nur für möglich gehalten? Nach der Partie zwischen Ungarn und Island war im Stade Vélodrome von Marseille viel von Qualität, Klasse und gar Spitzenfußball die Rede. Eigentlich war dieses Duell doch eher als eine Art Kennenlernbegegnung der zweiten europäischen Reihe eingestuft worden.

Wobei man einschränkend sagen muss: Dieses Lob kam nicht von unbeteiligter Seite. Vielmehr brachten die jeweiligen Teamverantwortlichen honigsüß ihre gegenseitige Wertschätzung zum Ausdruck. Ungarns deutscher Trainer Bernd Storck erklärte zum Gegner: „Das ist international eine Topmannschaft. Deshalb haben wir auch nicht so viele Torchancen gehabt.“

Man müsse sich doch nur anschauen, wie sie bereits in der EM-Qualifikation gegen Tschechien und die Niederlande verteidigt hätten. Erst in der 88. Minute hatte Nemanja Nikolic so scharf in den Strafraum geflankt, dass der unglückliche Birkir Saevarsson den Ball ins eigene Tor zum 1:1 lenkte. Und die Einschätzung des isländischen Assistenztrainers Heimir Hallgrimsson hernach konnte zugleich als Warnhinweis an alle anderen Turnierteilnehmer verstanden werden: „Ungarn ist ein wirklich gutes Team. Diejenigen, die sie unterschätzen, werden leiden müssen.“ Ungarn geht jetzt als Tabellenführer ins letzte Gruppenspiel gegen Portugal und ist mit bislang schon vier Punkten so gut wie sicher im Achtelfinale.

Mit dieser Turnierentwicklung scheinen die Ungarn selbst kaum Schritt halten zu können. Knapp eine Viertelstunde nach Abpfiff standen sie noch versammelt auf dem Rasen in Marseille und blickten auf den großen Stadionbildschirm hoch, wo die Höhepunkte der Partie noch einmal zu sehen waren. Sie schienen von ihrem eigenen Werk völlig ergriffen zu sein. „Mit jedem Punkt geht ein kleiner Traum in Erfüllung“, sagte Storck.

In den vergangenen Tagen erzählte der 53-Jährige immer wieder gern von diesen eigentlich so hoffnungslosen Geschichten seiner Spieler. Von Adam Lang etwa, der selbst in der schwachen ungarischen Liga lediglich Ersatz, aber im Nationalteam nun gesetzt ist. Oder von Richard Guzmics, der wegen eines schweren Patzers im Nationaltrikot vor drei Jahren in der Heimat derart hart angegangen wurde, dass er das Land Richtung Polen verließ. Lazlo Kleinheisler, der gegen Island scheinbar jeden freien Raum besetzen wollte, hat es bei Werder Bremen ebenfalls nicht über den Status des Ergänzungsspielers gebracht. Auch innerhalb der Nationalmannschaft hat sich keiner den Rang der Unersetzlichkeit erworben.

Storck brachte nach dem 2:0-EM-Auftakt gegen Österreich drei neue Spieler ins Team: „Wir haben einen ausgewogenen Kader. Bei uns kann jeder spielen.“ Wie Island kann Ungarn vor allem aufgrund seiner soliden Organisation punkten. Im Angesicht der drohenden Niederlage ließ Storck nur noch mit einer Dreierkette verteidigen und wechselte all seine Offensivoptionen ein.

„Wir haben Fußball gespielt“, betonte Torhüter Gabor Kiraly nach der Partie. Das mag selbstverständlich klingen, ist es aber nicht, wenn man die Verteidigungsschlachten dieser EM begutachtet, bei denen häufig auf weite, hohe Bälle oder Standardsituationen vertraut wurde.

Weit über 20.000 Ungarn waren nach Marseille gereist. Ungarns Hool­szene, das ist wohl bekannt, dominieren Rechtsextreme

Wenn Bernd Storck auf die Fortschritte der ungarischen Nationalmannschaft angesprochen wird, denkt er indes zunächst an die körperliche Komponente. „Wir sind physisch viel stärker geworden. Das ist die Basis.“ Adam Szalai hebt zudem den Mentalitätswandel der Mannschaft hervor, den Storck sehr gefördert habe. Anders als früher – bei all den erfolglosen EM- oder WM-Qualifikationsspielen seit der letzten EM-Finalteilhabe 1972 und der WM-Teilnahme 1986 – ergab sich das Team in Marseille nicht in sein Schicksal.

Auf Seiten der Fans scheinen die unerwarteten Erfolge einen gewissen Größenwahn zu befördern. Der organisierte Fanmarsch ins Stadion, angeführt von stämmigen glatzköpfigen Männern der Karpaten-Brigade, wirkte recht martialisch. Weit über 20.000 Ungarn waren nach Marseille gereist. Ungarns Hoolszene, das ist in der internationalen Fan-Community wohl bekannt, dominieren Rechtsextreme. Im Stadion nahmen sich dann auch etliche ungarische Anhänger mit Gewalt das Recht heraus, sich den Platz ihrer Wahl zu sichern. Und der späte 1:1-Ausgleich wurde mit einem erstaunlichen Arsenal an Böllern und Bengalos gefeiert.

Trainer Storck wollte sich mit diesen Schatten der Partie aber nicht weiter beschäftigen. Er sagte: „Lassen wir mal die blöden Bengalos zur Seite. Die Fans haben es verdient, dass wir nach all den Jahren so einen Erfolg einfahren können.“

Letzter Gruppenspieltag: Mittwoch, 18 Uhr, Ungarn – Portugal, Österreich – Island.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen