Der vergessene Anschlag

ALLTAG Jitendra Tandel ist Slumbewohner. Für ihn wie für die hohe Politik spielen die Anschläge von letztem Jahr keine Rolle

„Die Angst vor einem Terroranschlag ist in Indien am nächsten Tag wieder weg“

JITENDRA TANDEL

AUS BOMBAY GEORG BLUME

Jitendra Tandel trägt rote Sportkleidung, Sonnenbrille und eine Nike-Kappe. Er fährt einen Zweisitzer-Miet-Jetski am Chowpatty Beach, entlang Bombays berühmter Skyline. Tandel düst mit jeweils einem Fahrgast auf seinem Wassersportgerät bis nach Nariman Point, dem wichtigsten Finanzzentrum Indiens. Vor dem kleinen Fischerslum kurz dahinter, in dem er lebt, dreht er ab und saust zurück. Tandel kennt diesen Küstenabschnitt besser als fast jeder andere. Er wuchs hier als Fischerjunge auf. Sein Vater fährt noch immer jeden Tag von der kleinen Bucht hinter Nariman Point hinaus auf See zum Fischen.

Hat Tandel neue Sicherheitsmaßnahmen oder andere Veränderungen festgestellt, seit vor genau einem Jahr zehn Terroristen in einem Schlauchboot in seiner Bucht landeten? Er verneint energisch. Alles sei beim Alten geblieben. „Die Angst vor einem Terroranschlag ist in Indien am nächsten Tag wieder weg“, sagt Tandel. Dann fällt ihm doch noch etwas ein. Er zeigt vom Strand über die Straße auf eine Polizeieinheit, die ein Bankgebäude absichert. Die Polizisten seien früher nicht da gewesen, sagt Tandel, aber man müsse sich für sie schämen. Sie schliefen nachts auf der Straße, hätten nirgendwo Unterkunft, obwohl sie seit Monaten hier stationiert wären.

Ein paar frei campende Polizisten in den Hochhausgassen von Bombay? Ist das die Antwort der aufstrebenden Großmacht Indien auf die Terroranschläge, die am 26. November 2008 die ganze Welt erschütterten?

An diesem Tag vor einem Jahr begann alles in der kleinen Bucht, in der Tandels Slumhütte steht. Die Bucht wird am Abend nicht beleuchtet. Bemerkt nur von ein paar alten Fischern, die keinen Verdacht schöpften, konnten die Terroristen hier mit ihren schweren Rucksäcken voller Waffen und Munition an Land gehen. Tandel zeigt den genauen Landeplatz der Terroristen. Am späten Nachmittag nach Schulschluss spielen die Slumkinder hier Kricket.

Was dann vor einem Jahr geschah, begreift die Welt bis heute nicht vollständig. Drei Tage lang konnten die zehn aus Pakistan übergesetzten Attentäter die indischen Sicherheitskräfte in Schach halten. Live im Fernsehen. In dieser Zeit ermordeten sie 166 Menschen: reiche Gäste in dem Luxusbau des Tadj Mahal Palace Hotel, das sie stürmten. Arme Leute auf der Straße und im berühmten Victoria-Bahnhof. Aber auch die Rabbinerfamilie im jüdischen Zentrum von Südbombay.

Mal schienen sie ihre Opfer genau gewählt zu haben, mal nicht. Für die indische Öffentlichkeit aber spielte das ohnehin keine Rolle. Die Attentäter waren alle Pakistaner, Mitglieder der militanten islamischen Bewegung Lashkar-e-Taiba, die gute Beziehungen zum pakistanischen Geheimdienst unterhält. Ihr Angriff zielte auf ganz Indien. Sie hatten mit Bombays Finanzviertel eines der wichtigsten Machtzentren des Landes vorübergehend lahmgelegt. Indien schien empört. Die Medien überschlugen sich, weshalb weltweit die Angst vor einem Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan wuchs.

Ein Jahr später aber mutet diese Sorge im Rückblick völlig übertrieben an.

Sogar der Bombayer Boulevardpresse fällt es schwer, das Thema „26/11“, wie die Inder die Anschläge in Anlehnung an das amerikanische „9/11“ nennen, in den Spalten zu halten. Als Sensation herhalten muss dieser Tage ein Teufelsaustreiber, der von der Witwe eines Anschlagsopfers die Beteiligung an ihrer Entschädigung verlangt.

Auch die große Politik in Indien übergeht den Jahrestag des Ereignisses. Beim Besuch des indischen Ministerpräsidenten Manhoman Singh am Montag bei US-Präsident Barack Obama spielten die Anschläge von letztem Jahr nur eine kleine Nebenrolle. Der indische Innenminister Palaniappan Chidambaram leitet zudem gerade eine massive Polizeikampagne gegen die im ganzen Land versprengten militanten Maoisten ein. Für ihn steckt das größte Terrorrisiko derzeit in Indiens entferntem Hinterland, in Bergen und Wäldern, in denen sich die Maoisten seit Jahren auf großen Waffendepots festgesetzt haben. Aber nicht im boomenden Bombay.

Das größte Risiko geht heute von den Maoisten aus

Vor Ort aber sieht es so aus, als würde sich wenigstens ersatzweise die indische Filmindustrie mit den Attentaten beschäftigen. Zum Jahrestag wird großflächig, auf unzähligen Plakatwänden der neue Bollywood-Terroristenstreifen „Kurbaan“ angekündigt. Die ersten Aufführungen sind auch ausverkauft. Doch das Spektakel mit dem indischen Superstar Saif Ali Khan spielt weit entfernt in New York, und es suggeriert ein nach den Anschlägen in Bombay noch schwerer zu begreifendes Verständnis für die Terroristen. Tatsächlich liefen die Dreharbeiten für „Kurbaan“ schon vor über einem Jahr an.

Auch Fischersohn Tandel beschäftigt sich nicht mehr mit 26/11. Er ist Rettungsschwimmer. Für ihn waren die Fluten, die im Jahr 2005 völlig unerwartet Bombay überschwemmten, die viel größere Katastrophe. „Damals starben nur arme Leute wie wir, die in Hütten leben. Die Reichen waren in ihren großen Häusern sicher“, sagt Tandel.

Aus einem alten Holzschrank unter seiner Wellblechbehausung zieht Tandel Zeitungsartikel über die Fluten von 2005. In einem ist er abgebildet, weil er damals einem Jungen das Leben rettete. Von solchen Heldentaten wurde nach 26/11 wenig bekannt.

Stattdessen bezichtigen sich Bombays Polizisten heute gegenseitig in der Presse, sich vor einem Jahr nicht ins Gefecht getraut zu haben.