Zahnräder der Dampfmaschine

ORTSBEGEHUNG Die Artistania-Lagerhalle in der Neckarstraße wurde für KünsterInnen zum Schaffensmittelpunkt: Freiraum und Veranstaltungsort zugleich

Das Projekt Artistania entwickelte sich in einem Schaffensprozess zwischen allen Beteiligten

Schrottplätze, brach liegende Industrieflächen, leer stehende Lagerhallen – diese Orte üben seit jeher eine sonderbar in­spirierende Wirkung auf Kulturschaffende aus. In Neukölln hat es die ehemalige Lagerhalle der Kindl-Brauerei einer Gruppe von KünsterInnen angetan: In den letzten anderthalb Jahren waren um die 50 Personen damit beschäftigt, diese Location in der Neckarstraße zum Kulturort umzuwandeln.

„Artistania“ nennt sich die „Non profit“-Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen zusammenzubringen, um gemeinsam an interdisziplinären Projekten zu arbeiten und so ganz neue Formen von Kunst zu schaffen. Dabei orientieren sie sich am Prinzip each one teach one, einer aus dem ang­loamerikanischen Raum stammenden Abmachung des informellen Wissensaustauschs: Dabei geht es um eigenständiges Machen und Denken jenseits von Vermarktungsinteressen und Massenkonsum: um ein kreatives, inspirierendes Zusammensein. In der Neckarstraße funktioniert dies hervorragend: Während Kunstschaffende unterschiedlichster Disziplinen zusammenarbeiten, geschieht nebenbei auch Sprach- und sonstiger Knowhow-Austausch.

„Wir haben hier den Strom komplett selbst verlegt, weil einer von uns Elektriker war und es uns beigebracht hat“, erzählt Claire, die die Räumlichkeiten als Atelier nutzt. Ihre Projekte finanziert die Organisation über Einnahmen aus eigenen Vorstellungen und aus Konzerten, die sie in der ehemaligen Lagerhalle veranstalten.

Beim Betreten der Ausstellungsfläche fallen einem sofort Papp-Installationen ins Auge, die nie enden wollende Treppen darstellen, riesige Zahnräder, die in einem an eine Dampfmaschine erinnernden Kasten ineinandergreifen, oder gesichtslose Marionetten, die einen selbst weit überragen. Bei näherer Begutachtung zeigt sich: All die ausgestellten Objekte sind dafür geschaffen, zeitweise zum Leben zu erwachen. So entpuppt sich der Dampfmaschinen-Kasten als Kulisse für ein Puppentheater, das sich durch zahlreiche Klappen bespielen lässt – Titel des Theaterstückes: „Out of Dystopia“. Neben dem Einbezug von Kunstobjekten beinhalten die Theater-Performances, die hier entwickelt werden, auch Musikepisoden, Tanzeinlagen, Lichtinstallationen oder Live-Malereien.

All das entwickelte sich in einem gemeinsamen Schaffens­prozess zwischen allen Beteiligten. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen natürlich nicht abgeschirmt vom Tageslicht in der Lagerhalle bleiben: „Hauptziel ist es, unser Schaffen nach außen zu tragen“, erzählt Claire, „wir wollen eine mobile Struktur schaffen und als Theaterkarawane auch außerhalb Berlins unterwegs sein. Die Lagerhalle ist nur die Basis, von der wir ausgehen“.

An ihrer Ausgestaltung wird allerdings ebenso emsig weitergearbeitet wie an den Projekten selbst: Mittlerweile gibt es in den Räumen neben vielen kleinen Ateliers auch einen Konzertraum, ein Fotolabor und einen Proberaum. Eine Näh- und Druckwerkstatt befinden sich bereits in Planung.

„Out of Dystopia“ – im Sinne dieses Titels lassen die KünstlerInnen von Artistania nicht nur ihre Objekte zum Leben erwachen, sondern sie leben es in ihrer Arbeit voll und ganz aus.

Wer sich selbst einen Eindruck von der Gestalt verschaffen will, die dieses „Zum-Leben-Erwecken“ mittlerweile angenommen hat, hat an diesem Wochenende beste Gelegenheiten dazu: Die „Art Spaces Neukölln“ bieten am Samstag Touren durch das „Quartier 3“ an und werden auch der alten ­Lagerhalle in der Neckarstraße einen Besuch abstatten.

Annika Glunz