Muss jemand austreten?

BREXIT Heute stimmen die Briten darüber ab, ob sie die EU verlassen wollen. Das Ergebnis dürfte knapp ausfallen. Auch in der taz gehen die Meinungen auseinander

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Brexit-Berichte

IN

Der Kitsch, der im Zusammenhang mit einem möglichen EU-Austritt Großbritanniens aus deutschen Medien tropfte, war schwer erträglich. Und verlogen. Zumal zugleich der Eindruck entstand, es gehe vor allem um Wirtschaftspolitik. Dieser Eindruck ist falsch. Es geht um sehr viel mehr.

Wenn sich fast alle einig sind, dann ist Misstrauen immer angebracht. Im Hinblick auf den Brexit sind sich hierzulande beunruhigend viele Leute einig: Sie lehnen ihn ab. Überwiegend deshalb, weil sie wirtschaftliche Nachteile befürchten. Die Rede ist von Exportverlusten, von Turbulenzen an den Börsen, von Währungsschwankungen. Über den Abbau von Arbeitnehmerrechten wird seltener gesprochen, dabei spielt auch der eine Rolle. Diesen Abbau hat nämlich der britische Premier für den Fall ausgehandelt, dass Großbritannien in der EU bleibt. Was bedeutet: Die Europäische Union würde sich weiter vom Sozialstaat entfernen.

Warum wäre es trotzdem falsch, sogar tragisch, wenn Großbritannien die EU verließe? Weil Lebensqualität nicht allein vom Börsenkurs abhängt. Nur Kranke wissen, wie wunderbar Gesundheit ist. Mit der EU verhält es sich ähnlich: An deren Annehmlichkeiten hat man sich so sehr gewöhnt, dass man sie erst bemerkt, wenn sie wegfallen. Ein Job in London? Nur noch mit Arbeitserlaubnis. Umzug zur Geliebten? Nicht ohne Aufenthaltsgenehmigung. Wenn Großbritannien die EU verlässt, schafft das viele neue Jobs. In der Bürokratie.

Viel wichtiger aber ist: Jede Scheidung birgt die Gefahr eines Rosenkriegs. Innerhalb der EU scheint Frieden selbstverständlich geworden zu sein. Aber das ist eine Illusion. Wenn ein Stein herausfällt, bröckelt eine Mauer. Sollten die Briten gehen, dann wackelt die ganze Union. Hat sich den Mitgliedstaaten erst einmal gezeigt, dass bei Bedarf jeder die Koffer packen kann – und sei es nur in der Hoffnung auf schnellen Stimmenfang zu Hause –, könnte dies das Ende des Versuchs sein, unwiderrufliche Bedingungen für Frieden in Europa zu schaffen.

Exportverluste? Sie wären dann vermutlich unser geringstes Problem. Bettina Gaus

OUT

Liebe Briten, traut euch! Nicht wegen der rechtspopulistischen Thesen der United Kingdom Independence Party (Ukip) – sondern weil die Europäische Union sämtliche Ideale, die sie ursprünglich hatte, verraten hat. Sie ist eine neoliberale Organisation geworden, die für den Schutz multinationaler Unternehmen Grundrechte opfert. Die zynische Austeritätspolitik, die Menschen in die Obdachlosigkeit treibt, ist laut EU-Politik ein „Kollateralschaden“ im Interesse der Marktwirtschaft. Eine solche Organisation, die sich lediglich um die Interessen der Elite kümmert, gehört zerschlagen. Der Brexit wäre der erste Schritt, andere Länder folgen dann hoffentlich. Es ist an den Linken, eine Alternative anzubieten, die den ursprünglichen europäischen Geist der Solidarität wiederbelebt.

Dieser Geist ist im Interesse der Marktwirtschaft geopfert worden. Was ist die EU für die meisten Menschen? Reisen zu können, ohne den Pass vorzeigen zu müssen. Das ist ein Luxus. Will man mit diesem Privileg für diejenigen, die sich Reisen leisten können, den Krieg gegen die unteren Schichten, den die EU fährt, aufrechnen? Es ist es ekelhaft, sich im selben Lager mit solchen Kotzbrocken wie Nigel Farage von Ukip zu befinden. Aber ist das ein Grund, für eine Organisation zu stimmen, die demokratische Bewegungen wie in Griechenland zerschlägt und es gleichzeitig hinnimmt, dass sich xenophobe Regierungen in Ungarn und Polen der gemeinsamen EU-Politik in der Flüchtlingsfrage entziehen können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen? Will man sich wirklich mit Orbán und der polnischen PiS-Partei in der EU verbünden?

Die Bremer Stadtmusikanten haben es vorgemacht: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Etwas Besseres als die EU gilt es aufzubauen, wenn dieser antidemokratische Eliteclub zerschlagen ist. Macht den Anfang, Briten!Ralf Sotscheck