Neuanfang mit Faust

WECHSELZEIT Generalintendant Joachim Kümmritz ist seit 1979 mit den Geschicken des Schweriner Staatstheaters verbunden.
Nun wird er abgelöst. Viele Künstler müssen gehen. Der neue Chef, Lars Tietje, übernimmt eine treue Stammkundschaft

Kulisse für das Open-Air-Spektakel: das Schweriner Theatergebäude Foto: Heidrun Lohse

Aus Schwerin Heidrun Lohse

Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin ist schon etwas Besonderes. Im Ensemble von historischem Museum, dem Schloss auf der gegenüberliegenden Insel und diversen klassizistischen Bauten am Alten Garten war es 1886 einer der modernsten Theaterbauten in deutschen Landen. Ausgestattet mit Feuerlöschtechnik, die ihresgleichen suchte. Der Vorgängerbau war im Jahre 1882 einer Brandkatastrophe zum Opfer gefallen. Die Wassertanks in den Theaterkuppeln sollen bis heute intakt sein. Viele Künstler, unter anderem der Dirigent Kurt Masur, die legendäre Operndiva Hannelore Kuse oder die Brüder Otto und Eberhard Mellies, verbrachten künstlerisch entscheidende Jahre in Schwerin.

Vier Sparten sind am Haus zu finden: Musiktheater, Schauspiel, Ballett und die Niederdeutsche Fritz-Reuter-Bühne. Ein festes Puppentheater, das viele Jahre existierte, fiel vor ein paar Jahren dem Spargebot zum Opfer.

In Schwerin geht eigentlich jeder ins Theater: Von der Friseurin über den Arzt oder Lehrer bis hin zum Arbeitslosen, der sich an der Abendkasse günstig sein Ticket holen kann. Die Gesellschaft der Freunde des Mecklenburgischen Staatstheaters e. V. gehört mit über 1.000 Mitgliedern zu den zahlenstärksten und aktivsten Kulturvereinen in der Landeshauptstadt.

Als im Jahre 2006 das über 70 Jahre alte Theatergestühl öffentlich versteigert wurde, kamen die theateraffinen Schweriner in Scharen, um es nach Hause zu tragen, und bescherten damit dem Theater einen überraschenden Geldsegen.

Viele der heutigen Theatergänger besuchen dieses seit Jahrzehnten, bereits als Kinder, später mit dem eigenen Nachwuchs und dann wiederum mit den Enkeln. Klar, wenn man sich im Kreis der Freunde des Staatstheaters bewegt, bekommt man diese Geschichten erzählt.

Die des 82-jährigen Horst Zänger zum Beispiel: „Ich wurde 1947 als 14-Jähriger das erste Mal von einem Musiker des Orchesters mit ins Theater zu einer Probe genommen und war begeistert! Damals konnte ich mir nur die Stehplätze im dritten Rang leisten. Für mich gehört Theater auch heute noch mindestens einmal im Monat zu meinem Leben.“ Zum neuen Intendanten hat er auch eine Meinung. „Der neue Intendant tritt in große Fußspuren. Ich freue mich auf die neue Spielzeit und die neuen Gesichter.“

Bis zum Ende der DDR war Christoph Schroth hier Schauspieldirektor. Über 106 Mal lief seine fünfstündige „Faust“-Aufführung vor meist vollbesetzten Rängen. Im „Wilhelm Tell“ und bei den legendären Volksliederabenden wurde zwischen den Zeilen gespielt und gesungen, was bis dahin nicht ausgesprochen werden konnte.

Der in dieser Theatersaison scheidende Generalintendant Joachim Kümmritz ist seit 1979 mit den Geschicken des Hauses verbunden. Als im vergangenen Jahr der bevorstehende Intendantenwechsel festgemacht wurde, war kurze Zeit später klar, dass der „Neue“, Lars Tietje, mit einem eigenen Leitungsteam und vielen neuen Künstlern von Nordhausen nach Schwerin kommen würde.

Da die meisten der Sänger und Schauspieler mit Verträgen ausgestattet waren, die jährlich erneuert werden, war dem rechtlich nicht viel entgegenzusetzen. Dass Künstler über Jahrzehnte im selben Theater engagiert sind und mit ihrem Publikum älter werden, sei im deutsch-deutschen Theaterbetrieb ohnehin zur großen Ausnahme geworden, heißt es dazu in Theaterkreisen.

Der Betriebsratsvorsitzende und Bühnentechniker Andreas Fritsch, der seit 1991 am Haus arbeitet, sieht die Veränderungen realistisch: „Ich bin fast Theaterurgestein. Meine Mutter war hier schon Tänzerin und mein Vater hat als Bühnenmeister hier gearbeitet. Ich verstehe die Ängste der Künstler, die jetzt gehen mussten. Einen Wechsel in dieser Größenordnung hat es bisher noch nicht gegeben. Trotzdem teile ich die Aufbruchstimmung, die unter den Mitarbeitern im Haus herrscht.“

Mit über 300 Mitarbeitern zählt das Mecklenburgische Staatstheater zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Lars Tietje hat sich ein Jahr Zeit genommen, um seine zukünftigen Mitarbeiter kennenzulernen.

„Ich bin seit 1991 im Haus und fast Theaterurgestein. Meine Mutter war hier Tänzerin, mein Vater Bühnenmeister. Ich verstehe die Ängste der Künstler, die jetzt gehen mussten“

Bühnentechniker Andreas Fritsch

Die letzte Inszenierung unter Joachim Kümmritz, die Oper „Aida“, wird am 8. Juli Premiere feiern und über mehrere Wochen zwischen Theater und Schloss im Freien auf dem Alten Garten, dem repräsentativen Platz Schwerins, aufgeführt. Der scheidende Intendant, Joachim Kümmritz, der die Schlossfestspiele vor 23 Jahren ins Leben gerufen hat, freut sich auf die große Oper: „Mit ‚Aida‘ werden wir die Verdi-Trilogie auf dem Alten Garten vollenden, die 2014 mit ,Nabucco' begann und im vergangenen Jahr mit ,La Traviata‘ ihre Fortsetzung fand.“ Auch er schaut nach vorn und wird demnächst im Volkstheater Rostock als Interimsintendant arbeiten.

Für den Schweriner Alten Garten steht im nächsten Sommer als krönender Spielzeitabschluss nicht mehr Oper, sondern das Musical „West Side Story“ auf dem Spielplan.

Überhaupt wird in der neuen Spielzeit viel Neues auf das Theaterpublikum zukommen: 41 Premieren und 32 Konzerttermine stehen auf dem Programm.

Es kommt sogar noch eine fünfte Sparte hinzu: Das Landestheater Parchim wird mit seinem Kinder- und Jugendtheater den Spielplan bereichern.

Gemeinsam sind die beiden Häuser dann zum Mecklenburgischen Staatstheater zusammengewachsen. Die erste Premiere des neuen Ensembles wird mit Goethes „Faust“ am 23. September gefeiert. Aus der anfänglichen Skepsis der Theaterfreunde ist nun Neugierde geworden, wollen doch sehen, ob sie in Begeisterung umschlägt.