Tipp der Woche: Benjamin Moldenhauer über Kongress und Festival „Noisexistance“: Es steht Krach zur Debatte
Es kratzt und kracht, es fiept und schallert, und das ohrenbetäubend laut. Was in der Noise-Musik passiert, erklärt der Hamburger Musiker und Theoretiker David Wallraff, überschneide sich mit traditionellen Definitionen von Musik nur noch auf einer basalen Ebene: Zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt eine wie auch immer, gerne durch Improvisation, strukturierte Organisation von Klang, die zu einem späteren Zeitpunkt endet. „Dazwischen kann alles passieren“, sagt Wallraff, und „genau das finde ich ansprechend – dass es keine Melodieführung, keine Harmonik, keinen Rhythmus mehr geben muss.“
Wallraff wird auf dem dreitägigen Kongress „Noisexistance – Theorie und Praxis des Lärms“ den Eröffnungsvortrag halten.Trotz ihrer unmittelbaren Körperlichkeit sind Klänge, die primär den Magen adressieren, seit Beginn der Noise-Musik (die Veranstalter verorten ihn im Japan der Achtzigerjahre) diskursiv aufgeladen worden. Die Idee, Noise als bewusste, auch politische Antithese zum organisierten Wohlklang zu begreifen, hat Tradition.
Die erbaulich simple Variante stimmt heute eher nostalgisch und wird im Programm durch den wunderbaren Film „Decoder“ von 1984 repräsentiert: FM Einheit, damals bei den Einstürzenden Neubauten aktiv, spielt den Angestellten eines Fast-Food-Restaurants, der die systemstabilisierende Funktion des omnipräsenten Muzak-Gedudels erkennt. Der Wohlklang wird von ihm zerschnippelt, die Klänge verzerrt und neu zusammengesetzt. Das Ergebnis sind Klänge, die, eingespeist in die Beschallungsapparaturen, den durch seichte Harmonie verfestigten Verblendungszusammenhang zerdullern.
„Decoder“ zeugt von einer Zeit, in der eine extremistische Ästhetik sich noch ohne Weiteres mit dem Komplex Subversion in Verbindung bringen ließ. Die Revolte bricht los. So einfach kann es gehen.
Im Gesamten ist der Film allerdings weniger schematisch, als seine Manipulationsidee gedacht ist – die Kamera schwirrt drauflos, nicht nur die Töne, auch die Bilder sind verrauscht. Trotzdem markiert der Film eine Differenz: Die Voraussetzungen heute sind andere, die subversive Geste ist entmystifiziert und die Integrationsfähigkeit der marktförmigen Welt immens. Der Kongress gibt Gelegenheit, so steht es in der Ankündigung, „zentralen Fragen aus dem Spannungsverhältnis von Noise, Aufruhr und Musik“ nachzugehen. Der Performer Mattin spricht über „Noise and Capitalism“, Paul Hegarty über die Vereinnahmung von Noise-Ästhetik.
Im Praxisteil kracht es dann ganz gewaltig. Hure treten auf, eine Berliner Noiserock-Band, die alles vermeidet, was an die Gleichmäßigkeit des Vier-Viertel-Taktes erinnert. Übrig bleibt dann halt Noise, nicht nur hier in einer sehr infernalischen Ausprägung. Daneben finden sich eher konzeptuell arbeitende Künstlerinnen und Künstler wie etwa Michael Barthel oder CoCo. Eine Veranstaltung, auf der eine Black-Metal-Band wie Sun Worship in Relation zum Rest als Crowdpleaser gelten kann, hat man auch nicht häufig.
Auch Skeptikern sei der Kongressbesuch nachdrücklich ans Herz gelegt. Am Anfang sind die Möglichkeiten, die einem konfrontative Musik lässt, begrenzt: Man kann sich drauf einlassen oder man geht halt raus. Das aber ist eine ihrer großen Qualitäten: Was in den diversen dem Genre zugehörigen Mikroszenen seit den Achtzigern fabriziert wurde, verunmöglicht blöde Indifferenz, so weit es eben geht. Schon für diese dem organisierten Krach inhärente Dringlichkeit kann man ihn lieben.
Ab Freitag, 24. Juni, das Programm und die Spielorte: www.noisexistance.com
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