: Im historischen Prozess
Kunst Jeder Raum ist bei ihm ein politisch aufgeladener Ort: Der Fotograf Thomas Struth präsentiert mit der Werkschau „Nature & Politics“ im Martin-Gropius-Bau seine erste Museums-ausstellung in Berlin
von Brigitte Werneburg
Im Format ein Meter sechzig mal zwei Meter zehn zeigt sich ein Tohuwabohu aus Stahlgestänge und Stahlbauteilen, aus Holzbrettern, Aluminium- und Plastikfolie, Unmassen von Kabelsträngen, Steckdosen, Kupferleitungen und Maschinenteilen, um nur das aufzuzählen, was man schnell erkennt. Die ebenso verschachtelte wie verschaltete Unordnung, in deren scheinbar unergründliche Tiefe man blickt, nennt sich „Stellarator Wendelstein 7-X“, und ihr fotografisches Bild aus dem Jahr 2009 zeigt nur ein Detail der so benannten Kernfusionsanlage im Max-Planck-Institut IPP, Greifswald. Alles, so wirkt es, ist hier zusammengebastelt, nichts, aber auch gar nichts ist standardisiert, wie man es als naiver Mensch doch von einer Hochtechnologie-Anlage mit berechenbaren technischen Abläufen erwarten würde.
Standardisierung ist ein zentraler Begriff für das Vorgehen des Fotografen, der dieses Bild aufgenommen hat: Thomas Struth. Der Bernd-und-Hilla-Becher-Schüler der ersten Stunde ist für seine Straßenaufnahmen berühmt, die er Mitte der 1970er Jahre geradezu wissenschaftlich standardisiert − stets zentralperspektivisch am Morgen mittig in der menschenleeren Straße stehend − aufnimmt, was zu einer strengen Bildordnung in Serie führt.
Vegetation des Dschungels
Die gerne als unmenschlich apostrophierte Präzision dieser Schwarzweißaufnahmen scheint zunächst eine kalte, klare Übersichtlichkeit zu gewährleisten − bis man bemerkt, wie man in der Vielfalt der völlig gleichgültigen Details unterzugehen droht. Deutlicher wird diese Faszination am Chaos bei einem gleichzeitig regelgeleiteten Aufnahmeverfahren im All-over der undurchdringlichen Vegetation des Dschungels und der Urwälder unseres Planeten, die Thomas Struth in seiner 1998 begonnenen Werkgruppe „Paradise“ untersucht.
Dass dieses All-over der Natur nicht platt mit dem der Technik kontrastiert wird, ja dass es gar nicht vorkommt in Struths erster Museumsausstellung in Berlin, die doch den Titel „Nature & Politics“ trägt, zeigt schon: Diese Werkschau mit 37 Aufnahmen aus den letzten neun Jahren ist sehr sorgfältig und bedacht zusammengestellt. Und dagegen spricht auch nicht, dass mit „Nature & Politics“ ein weites Feld benannt wird. Der Titel ist eben ein bisschen ironisch gemeint; vielleicht um die Wucht der Bildmotive aus den Geheimlaboren der Spitzenforschung ein wenig abzumildern, in die es der Fotograf schafft vorzudringen.
Und wirklich: Weder beschwören seine Fotografien von Teilchenbeschleunigern, Messapparaten, Chemielaboren, ultraschnellen Lasern, von Industrieanlagen, Operationssälen oder der künstlichen Natur des ersten Disneylands in Anaheim, Kalifornien und des Aquariums in Atlanta den Glanz und die Macht von Technik und Fortschritt, noch beschwören sie deren Gefahren. Stattdessen werden die Apparate, ihre Oberflächen und ihre Einblicke in ihr Inneres sorgfältig gescannt.
Bei Thomas Struth gibt es nur genaues Hinschauen, und manchmal vielleicht ein Staunen über das Gesehene oder auch ein Erschrecken. Das Bild des in der Apparatur der Intensivmedizin gefangenen Frauenkörpers, „Figure II, Charité, Berlin 2013“ betitelt, könnte so gelesen werden. Dieser bewusstlose Körper ist ein großes Ausrufezeichen in der Ausstellung, das nicht fotografiert und weiterverbreitet werden darf. Menschen treten sonst in den Bildern kaum in Erscheinung.
Trotzdem ist jeder Raum, den Struth fotografiert – neben den Laboren, in denen unter anderem die Bewegungen von Wellen erforscht werden, ein aufgewühltes Meer, ein verwahrloster Hinterhof in St. Petersburg, ein Bunker auf den Golanhöhen oder die Verkündigungsbasilika in Nazareth – ein politisch aufgeladener Ort. Ein Tatort im Benjamin’schen Sinne: „der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen“, wie er im „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schrieb. „Die Aufnahmen beginnen Beweisstücke im historischen Prozess zu werden“. Das mache ihre politische Bedeutung aus. Beschriftung werde deshalb unerlässlich.
Sie fehlt aber den Bildern der Ausstellung. Die mit dem Bild an der Wand ganz allein gelassene Wahrnehmung wird derart ganz auf die formale Ästhetik der Aufnahme gelenkt, während das (politische) Motiv in den Hintergrund rückt. Doch dann entdeckt man den Flyer mit Thumbnails und Angaben am Eingang und sieht in der Komplikation Struths eigenes, kleines empirisches Experiment: Sind die dichten Oberflächen Fotografien, ist ihre sachliche Schönheit interessant genug, dass sie bei den BetrachterInnen Lust auf weitere eigenständig zu leistende Aufklärung weckt? Denn davon sprach er auf der Pressekonferenz, dass sich doch jeder und jede per Netzrecherche über das bei ihm Gesehene kundig machen könne.
Und ja, man möchte die Wette wagen, die Bilder machen Lust darauf, mehr zu wissen.
Bis 18. September, Martin-Gropius-Bau, Mi.–Mo. 10–19 Uhr, Katalog (MACK) 28 Euro
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