Eine gut verpackte Miniaturgesellschaft

SCHNELLrestaurant In Bremerhaven wird Roland Schimmelpfennigs „Der goldene Drache“ auf die Bühne des Stadttheaters gebracht – in einer Opern-Luxusversion

Dramatisch bewirtschaftetes Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurant „Der goldene Drache“: Die Bühne im Bremerhavener Stadttheater wird zum Wok Foto: Stadttheater Bremerhaven

von Jens Fischer

Oh Schreck, oh Graus, liegt eine Terrorwarnung vor? Steht dort tatsächlich ein Zahnarzttermin im Kalender? Für Menschen mit entsprechender Phobie in dazu passender Notlage lohnt der Besuch des von Roland Schimmelpfennig dramatisch bewirtschafteten Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurants „Der goldene Drache“. Der regieführende Intendant Ulrich Mokrusch hat das globalisierte Franchise-System in der Opern-Luxusversion auf der große Bühne seines Stadttheaters installiert. Damit ist Bremerhaven nach Frankfurt erst die zweite deutsche Stadt mit einer solchen Filiale – und mit ihrer Eröffnung startet gleichzeitig das Festival „Offshore“, das (bis 26. Juni) mit Theater-, Diskurs- und multikulturellen Picknickangeboten um „Identitäten am Rande der Gesellschaft“ kreist.

Weswegen nun auch gleich mal die Drehbühne kreist – mit stoischer Teilnahmslosigkeit wie das Schicksal. Auf den Boden der rotierenden Scheibe ist frisches Gemüse gemalt. Ein Wok also, um den herum das hungrige Publikum sitzt – in geradezu greifbare Nähe gerückt zum zahnwunden Geschehen um einen chinesischen Aushilfskoch.

Ein moderner Arbeitssklave ist es, jung an Jahren, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Rechte. Regine Sturm spielt ihn, verzieht in kecker Comicmanier martervoll das Gesicht, stellt so die kariös nagende Pein optisch aus. Peter Eötvös, eine erfahrener Filmmusikkomponist, hat sie vertont. Der Ungar kann erbarmungslos effektsicher Gefühle illustrieren und zum Erbarmen konkret der Empathie zuführen. Mit welch angsteinflößenden Koloraturen nun „Schmer-eer-zzzzen“ sopraniert und mit schaurigen „Aua“-Schreien gekrönt werden, unterstützt von quietschenden und jaulenden Bläsereinwürfen, Zahnbohrertönen der Violine, perkussivem Klirren sowie zuckenden Rhythmen: Das ist wirklich Musik mit Gänsehautgarantie. Die einen von Katharsis gepackt zurücklässt. Abgehärtet und entspannt – für den eigenen Zahnarztbesuch.

Der ist dem Asiaten des Stücks verwehrt – als nicht gemeldeter Migrant. Also fuhrwerken die mitleidvollen Kollegen mit Essstäbchen im wunden Mund herum, bis sie das Zahnübel mit ihrer Wurzel per Rohrzange extrahieren. Und leider den Jungen gleich mit exekutieren. Er verblutet – sein Körper wird in einem Fluss entsorgt.

Da fährt Eötvös dann richtig große Oper auf: Lässt ab von seinem sonst der Textverständlichkeit dienlichen Parlando-Ton und spendiert der Sängerin schillernde Kantilenen melodramatischen Zuschnitts. Mokrusch inszeniert das als Himmelfahrt. Während also der Entzahnte laut Libretto tot ins Meer, dann heim in ein utopisches China treibt und dabei von Fischen bis auf die Knochen abgenagt wird, entschwebt die Darstellerin ihren zerfetzten Lebensträumen in einer Kettenkarussellgondel. Derweil schweben zerfetzte, nur mehr blassrote Chinalampions herab. „Mir geht es gut“, ist noch zu hören. Jetzt, ohne Leben, ohne Leid: Erlösung.

Bevor es buddhistisch ins Nirwana wabert, flutscht die letzte Erinnerung an diesen Flüchtling, der Zahn, in eine Thai-Suppe, wird herausgeschlürft, dann achtlos entsorgt von einer Stewardess, die sich daran erinnert, sanfte Assoziationshilfe und Link zu aktuellen Debatten, wie sie kürzlich aus zehn Kilometer Flughöhe im Mittelmeer erstmals ein Flüchtlingsboot entdeckte.

Mokrusch entwickelt das tragikomische Geschehen mit Feingefühl. Treibt die groteske Zuspitzung einer sozialen Tragödie ins poetische Hiobsmärchenspiel. Und das Tollste: Er bringt das Sängerquintett in den knapp umrissenen Szenen ins Spielen. Es darf – wie im Sprechtheater ja üblich – ständig der Handlungsebenen, damit Rollen und Geschlecht, Alter, kulturelle Identität und Schicksale wechseln – dabei in liebevoll karikierender Art die Figurenkonstellationen entwickeln. Alle hängen dabei irgendwie mit allen zusammen. Sind einander aber kaum bekannt. Eine Miniaturgesellschaft, dicht und etagenweise verpackt.

Ein moderner Arbeitssklave ist es, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Rechte

Über dem Erdgeschoss, der Wok-Ebene mit Zahn-OP und Hühnchenfleisch süß-sauer, wohnt ein Großvater mit dem Wunsch, noch mal jung zu sein und Sex zu haben. In einem anderen Stockwerk hat ein Liebespaar einmal zu viel Sex gehabt und trennt sich angesichts der ungewollten Schwangerschaft. Beängstigend ausgespielt, wie der harmlose Knuddelbärfreund (Tobias Haaks) dabei zum Schläger mutiert – und wie der Knuddelopa (Thomas Burger) ein peinlicher Fall von Notgeilheit wird, die entsetzte Enkelin anbaggert, dann aber lieber eine Prostituierte malträtiert. Das ist die zur Sexarbeit gezwungene Schwester des verbluteten Chinesen.

Auf der Fabel­ebene aber auch die Grille. Wie in Jean de La Fontaines Vorlage braucht es noch eine Ameise (Patrizia Häusermann), die hier die Rolle der Zuhälterin innehat und mit getönter Nickelbrille sowie vor den Bauch gebundenem Wok dick und mächtig cool daherkommt. Während Grillendarsteller Burger mit auf den Oberkörper geschnallten Reisschälchen-Brüsten und jämmerlichen Bauchtanzversuchen ein Geschöpf der traurigen Gestalt abgibt. Ausgebeutete Einwanderin.

Dass das Ensemble einen Soundtrack mit Löffeln, Mörsern und Klangschalen schlagwerkelt, war ein Clou der Wiener Uraufführung der Schauspielvorlage. Eötvös übernimmt diese Idee, die Geburt des Musiktheaters aus dem Geiste des Wok-Küchen-Geklappers, lässt erst mal mit Rührbesen in Metallschüssel, Messer auf Holzbrett, Löffel in Wok musizieren und addiert Schläge auf einem chinesischen Gong. Bastelt aber zunehmend komplexer an der akustischen Kulisse. Verwebt das Geflecht der Episoden, schafft Orientierung im Wechselspiel der Verkörperungen. Eötvös gibt Bartók als „Muttersprache“ an. Kein Wunder also, dass er mit selbst gemixten Tonpigmenten irisierende Klangfelder von aggressionstrunken bis weltentrückt gestaltet – Beziehungen psychologisch, Situationen ausweglos ausmalen, aber auch slapstickhaft kommentieren und in ästhetische Distanz rücken kann.

Prima durchhörbar macht das Orchester unter Ido Arat nicht nur die Zahnschmerzmusik, sondern die ganze Partitur. Ein rundherum beeindruckender Abend – als Leistungsbeweis des Bremerhavener Theaters.

Nächste Aufführungen von „Der goldene Drache“: 15. (ausverkauft), 19. und 23. 6., jeweils um 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven, Am Alten Hafen 25