Social Slumming in den Lenaustuben
: Und überall Bildschirme

Ausgehen und Rumstehen

von René Hamann

Woran liegt’s? Liegt es am Wetter, das seit Sonntag eher durchwachsen ist? Liegt es an der latenten Angst vor Massenpanik und Terror, liegt es an dem Überangebot oder der Sättigung? Echtes EM-Fieber will nicht aufkommen dieses Mal. Selbst bei Deutschlandspielen sind die Kneipen leerer als sonst.

Mag auch daran liegen, dass die Leute lieber daheim gucken, wo inzwischen auch Bildschirme hängen, die Provinzkinoleinwand-Größe haben. Mag daran liegen, dass das Bier zu Hause billiger ist als in der Bar und man nicht noch tagelang den Zigarettenqualm in den Klamotten trägt. Dass man sich nicht mehr jedes Spiel von Expats zuquatschen lassen möchte. Dass man lieber nicht da sein möchte, wo die Erdnussflips Würmer heißen.

Dauerpalavernde Damen

Wir haben es jedenfalls versucht, an diesem ersten EM-Wochenende. Sind am Freitag zum Eröffnungsspiel in den Damensalon gestiefelt, wo erst zwei Herren acht Plätze vorbesetzt hielten, dann aber nur fünf von ihren Leuten gekommen sind. Wo sich die dauerpalavernden Damen im Hintergrund nicht unbedingt für das Spiel interessierten, das so toll auch gar nicht war. Wo die Herren am Rand auch mal eine Tüte durchgezogen haben.

Am Samstag haben wir uns auf die Bierbank vor dem Club 49 gesetzt und haben den Blick auf das Schaufenster gerichtet, wo der Bildschirm platziert war. Es war ruhig und schön, das Spiel war eine Spur interessanter als die vorherigen, und Kreuzberg wirkte auch anders als der Reuterkiez in Neukölln, nämlich älter und kaputter, kaputter und älter. Leute mit Hunden, die vorfreudig aus den Hausfluren stürmten. Bedürftige, die sich ins Bild stellten, um Aufmerksamkeit zu erhaschen. Leider aber war es auf Dauer zu kühl, da draußen.

Am Sonntag schließlich machten wir Social Slumming in den Lenaustuben, wo es Deutschlandschals für die Gewinnertipps gab und ich zu viele von den Kartoffelchips hatte. EM heißt leider auch gesundheitlicher Ausnahmezustand. Zu viel Knabberkram, zu viel Alkohol, zu viele Zigaretten, zu viel Sitzen und zu viel schlechtes Essen, dass da die Gesundheitspolizei nichts macht! Alkoholfreies Weizen, habe ich festgestellt, ist hingegen ein gutes Getränk, damit fällt man nicht groß auf, und schmecken tut es auch.

Und überall Bildschirme. Bildschirme vor den Kiosken, Bildschirme beim Inder, beim Vietnamesen. Und das soll jetzt noch fast vier Wochen so gehen?

Es gab natürlich noch andere Themen, sehr wichtige Themen an diesem Wochenende. Die Nachrichten aber liefen als Pausenfüller zwischen zwei Halbzeiten mit; der Terror sucht sich andere Schauplätze als das fußballokkupierte Europa, scheint es; dabei kommt Gewalt inzwischen fast grundsätzlich von rechts; das Poesiefestival musste ohne mich zu Ende gehen; und in den Kneipengesprächen après le football ging es um soziale Begriffe wie das Anstandsbier (das man nach dem gemeinsamen Besuch einer Kulturveranstaltung noch zu trinken hat) und Beziehungsfragen in Zeiten von Kinderwünschen oder schon erhaltenem Nachwuchs.

Am Montagmorgen jedenfalls erwachte ich mit Kopfschmerzen, obwohl ich gar keinen Alkohol getrunken hatte. Die nächsten Wochen werden hart.