Sinn suchende Geister

Nietzsche, Tod und Teufel: Das experimentierfreudige Kölner Festival „tanzhautnah“ wirbelt ins zehnte Jahr – mit künstlerischen Wagnissen an entlegenen Orten und der gewohnten Kreativität

VON HOLGER MÖHLMANN

Manchmal ist der Weg zur Kultur beschwerlich. Man muss sie an entlegenen Plätzen suchen, die Experimente und kleinen kreativen Impulse. Zum Beispiel im frisch sanierten, aber noch immer von hohen Bauzäunen umzingelten Kunsthaus Rhenania am Kölner Yachthafen. Hier hatte am vergangenen Wochenende mit Erika Winklers Performance „Vom Hinaufsteigen und den Himmelsabgründen“ die erste Produktion der Reihe „tanzhautnah“ Premiere, die in diesem Herbst ins zehnte Jahr geht.

Das Kölner Festival des freien Tanztheaters ist eine von viel Idealismus und mäßiger finanzieller Förderung getragene Initiative, die eine eingeschworene Zuschauergemeinde an entlegene Orte lockt, um ihr Ungewohntes und Innovatives zu zeigen. Mit Erika Winklers Performance testet „tanzhautnah“ einen neuen Spielort. Und der wird gleich ordentlich eingebunden in die Kunst: An den mächtigen weißen Pfeilern einer Säulenhalle arbeiten sich die TänzerInnen ab, testen zu Live-Elektrosounds (Viola Kramer) die Möglichkeiten und Grenzen des Raumes, dazu sprechen sie Texte von Schopenhauer und Nietzsche, Musil und Marukami. „Getanztes Denken“ nennt die Choreografin ihr Konzept, in dem es um nichts weniger geht als um die „conditio humana“, um das Wesen des Menschen, sein Können und sein Wollen. Während in den Texten Sinn suchende Geister mit ihren Theoremen und Maximen zu Wort kommen, gehen die Körper im Raum auf die Suche, tanzen auf drei verschiedenen Bühnen der Erkenntnis entgegen, recken alle Gliedmaßen ins Unbekannte, machen Kopfstand und philosophieren im Liegen, bewegen sich mechanisch wie exerzierende Automatenmenschen und scheuen auch nicht vor Posen zurück, die an Hüftschäden und gelähmte Beine denken lassen.

Jenseits des choreografischen Mainstreams liegt sie auf jeden Fall, diese Melange aus Philosophie und Bewegung, und ist dabei viel witziger als sich vermuten ließe. Vor allem tänzerisch kommt die Inszenierung so kreativ und professionell daher, wie man es bei „tanzhautnah“ seit Jahren gewohnt ist. Erst im letzten Drittel wirft das Mischungsverhältnis von Tanzsprache und gesprochener Sprache Probleme auf, wiederholen sich choreografische Elemente, reduziert sich der Tanz zur Rahmenhandlung für immer neue existenzphilosophische Sprachspiele. Vielleicht liegt es daran, dass „tanzhautnah“ von Menschen gemacht wird, die besonderen Wert auf Aussagen legen und es damit manchmal eine Spur zu gut meinen. Was nicht heißen soll, dass übergeordnete Fragestellungen und die Verbindung verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten im Tanztheater nichts zu suchen hätten – nur ist auch hier das rechte Maß gefragt.

Für diesen Herbst stehen bei „tanzhautnah“ drei weitere Produktionen an, allesamt im Bürgerhaus Stollwerck in der Kölner Südstadt. Ausgehend von Hans Christian Andersens „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ erforschen die jungen TänzerInnen von „mind the gap“ in ihrer Produktion „Match Girl“ die Überschneidungen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, zwischen Reality-TV, Cyberspace und Alltagswelt. Gleichzeitig verabschiedet sich die Truppe nach dreizehn Jahren von ihrem Publikum: Für das nächste Projekt „dance in education“ fehlt ein tragfähiges Finanzierungskonzept. Beim moving theatre und seinen Choreografen Massimo Gerardi und Emanuele Soavi stehen in diesem Jahr der dritte und der vierte Teil von „Intense“ auf dem Programm, einer getanzten Pentalogie zu den fünf Sinnen. Diesmal geht es ums Riechen und ums Schmecken, aber auch um Mangel und Ausschweifung, Missbrauch und Genuss. Schließlich nehmen Barbara Fuchs und Koni Hanft ihr Publikum in der tragikomischen Produktion „Exitus“ mit auf einen tänzerisch-musikalischen Höllentrip: Tanz, Tod und Teufel bilden die tragenden Elemente – Grund genug, sich auf den Weg zu machen und dem Tanztheater ein Stück entgegenzugehen.

bis 30. 10., Köln, Bürgerhaus StollwerckInfos: www.tanzhautnah.de