Lieber erst mal gucken lassen: Coraline versteht wie alle Kinder eine ganze Menge vom Gruseln Foto: Universal Pictures/dpa

Selbstermächtigung statt Zensur

Kinder-Grusel Noch in den 1990er-Jahren kreisten medien-pädagogische Debatten über Horrorthemen im Kinderfilm um die Frage der Vermeidung. Heute ist man weiter, erklärt ein in Bremen forschende Filmwissenschaftler

von Benjamin Moldenhauer

Ein Film, so grausam wie ein Märchen. Das 11-jährige Mädchen Coraline öffnet die verborgene Tür in der Wand des Hauses, in das sie gerade mit ihren Eltern eingezogen ist. Sie findet die eigene Familie wieder, Vater und Mutter, nur in einer perfektionierten Ausfertigung. Immer gibt es ihr Lieblingsessen, der Vater, in dem, was der Film uns als Wirklichkeit anbietet, ein gutartiger, aber innerlich abwesender Workaholic, hat mit einem Mal alle Zeit der Welt, die Mutter ist nicht mehr abweisend, sondern am Befinden der Tochter interessiert. Doch die Idylle macht, was Idyllen nun einmal naturgemäß tun: Sie bröckelt.

Bald stellt die perfekte Mutter Bedingungen. Die Augen der Tochter müssen raus, stattdessen sollen Knöpfe eingesetzt werden. Das tue auch gar nicht weh. Aber auch der 8-jährige Zuschauer weiß, dass das nicht stimmt.

Die beeindruckenden Stop-Motion-Bilder von Henry Selicks Film „Coraline“ markierten 2009 einen Einschnitt in der Diskussion über das Kinderkino. Unverhofft war da ein Film, von der Kritik hochgelobt und von vergleichsweise vielen gesehen, der dem jungen Publikum überraschend intensive furchteinflößende Bildern zutraute. Die Mutterfigur, die Coraline in ihrer Wunschwelt findet, verwandelt sich – den geübten Freudianer wird es nicht groß wundern – in ein riesenhaftes Spinnenwesen, das Anstalten macht, sich das renitente Mädchen einzuverleiben.

„Coraline“ lotete nicht nur hinsichtlich seiner Monsterfiguren, sondern auch hinsichtlich der formaler filmischer Freiheiten die Grenzen des im Kinderfilm bis dahin Möglichen aus: Im Finale dröhnt es auf der Tonspur ohrenbetäubend, die Bilder verlieren ihre klare Struktur. Das kindliche Bedürfnis, sich schrecklichen Bildern auszusetzen und die von ihnen evozierte Angstlust durchzustehen, war mit einem Mal wieder Thema in der Medienpädagogik.

Neu war nicht nur, dass nun Kinderfilme, die, ironisch oder ernst gestimmt, Versatzstücke des Horrorgenres integrierten, in den Fokus rückten. Neu war auch, dass die Diskussion anders als in den Neunzigerjahren nicht mehr um Strategien der Verhinderung kreiste. Damals verstellte die Sorge einen unvoreingenommenen Blick auf die Filme (in diesen Fall für Jugendliche) weitgehend.

Auf den zwei Tagungen – eine davon 2015 in Delmenhorst und von mir mitorganisiert – und im Sammelband „Von wilden Kerlen und wilden Hühnern“, herausgegeben unter anderen von Bettina Kümmerling-Meibauer, der dem Thema „Horrorfilme für Kinder“ eine eigene Sektion widmete, ging es um Filmästhetik und die entwicklungspsychologischen Potenziale des Kinderfilms.

Für „Coraline“ galt, was andere Kinderfilme mit abgedämpfter Wucht ebenfalls durchexerzierten: Der Film attackiert sein Pub­likum in für die Gattung Kinderfilm ungeahnter Heftigkeit, ermöglicht ihm aber im selben Zuge die Selbstermächtigung im Angesicht des Schrecklichen. Heißt in diesem Fall: Die Titelheldin tritt die Mutterspinne am Ende beherzt in den Orkus. Die Argumentation, dass die starke Heldin den Schrecken auch für viele junge Zuschauer überwinde, wurde nicht etwa zuallererst in dem Beitrag eines jungen, ungestümen Medienwissenschaftlers entfaltet – sondern im FSK-Gutachten, das, die Zunft war erstaunt, den Film ab sechs Jahren freigab.

Ein weiterer zentraler Film, Spike Jonzes Verfilmung von Maurice Sendaks Bilderbuchklassiker „Wo die wilden Kerle wohnen“, wagte im selben Jahr einen schonungslosen und empathischen Blick auf die seelischen Konflikte eines neunjährigen Jungen. Was sich auf dem Papier allzu einfach liest – das Innenleben des Protagonisten findet sein Bild in einem Ensemble impulsiv agierender Monsterfiguren –, gestaltet sich auf der Leinwand als das komplexe und alles andere als simplifizierte Bild einer kindlichen Psyche.

Die Grenze der Zumutbarkeit wurde hier durch die gleichfalls relativ schonungslose filmische Ausgestaltung von Empfindungen wie Trauer oder Verlassenheit touchiert. Aber eben auch nicht überschritten: Glaubt man den Statements, die auf diversen Workshops mit Kindern zu dem Film öfter zu hören waren, fühlten sich die jungen Zuschauer von den Bilder überwiegend nicht überfordert, sondern ernst genommen.

Mit einer ähnlich reflektierten Empathie für seine Figur gelang das ein Jahr zuvor nur Daniel Barnz’„Phoebe in Wonderland“, in dem eine Schulaufführung von „Alice im Wunderland“ als Bühne für das Seelenleben der hochsensiblen Titelheldin fungiert. Vergleichbares ist in der Geschichte zumindest des amerikanischen Kinderfilms selten – Rob Reiners „Stand by Me“ geht mit einer ähnlichen Ernsthaftigkeit zur Sache.

36, ist Filmwissenschaftler und Mitorganisator der Tagung „Angst und Selbstermächtigung im Kinderfilm“ am Hanse-Wissenschafts-Kolleg Delmenhorst.

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Benjamin Moldenhauer

Daneben standen einige vergleichsweise gelöste Filme, die offenbar zurecht davon ausgingen, dass das Kinderpublikum mehr von Horrorfilm verstand, als die Eltern vielleicht ahnten. „Hotel Transsilvanien“ versetzte 2012 die klassischen Monsterfiguren (Graf Dracula, Frankensteins Monster, den Werwolf, die Mumie und andere) in ein kindgerechtes Setting. „Para Norman“ (vom gleichen Team wie „Coraline“ produziert, nun aber, obwohl harmloser, in Deutschland erst ab 12 Jahren freigegeben) ließ eine Gruppe Zombies in eine amerikanischen Kleinstadt einfallen.

Anders als „Hotel Transsilvanien“ erzählte der Film bei allem Jux aber eine todernste, genretypische Geschichte von der Gewalt, die als verdrängte wieder an ihren Ursprungsort zurückkehrt: Die Untoten hatten zu Lebzeiten ein Mädchen, das als Hexe verdächtigt wurde, zum Tode verurteilt.

Die Beschäftigung mit Filmen, die sich in kindgerechter Weise mit der Gewalt und der Stumpfheit der Erwachsenen befassen, öffnete den Blick auch für historische Vorläufer und den internationalen Kinderfilm. Der deutsche Film „Haus der Krokodile“ spielte mit den Versatzstücken des Geisterfilms, „Die Brücke nach Terabithia“ von 2007 ist ein Beispiel für eine Walt-Disney-Produktion, die, ähnlich wie „My Girl“ 1992, vom Tod eines Freundes handelt.

Es wird an diesen Filmen besonders deutlich, dass der Kinderfilm nicht die defizitäre Vorstufe des Erwachsenenkinos sein kann, sondern nicht weniger komplex und fordernd sein kann. Und das für Zuschauer aller Altersgruppen.