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Berliner SzenenVertrauenspunkte

Nur Minus

„Was hast du mir heute gegeben? Ich habe dir viel gegeben“

„Wie viele Vertrauenspunkte hast du heute schon verloren?“, fragt eine junge Frau ihren Sohn an der Bushaltestelle am Anhalter Bahnhof. „Was hast du mir heute gegeben? Ich habe dir viel gegeben. Und du: nichts.“

Zuerst denke ich, es sei alles metaphorisch, denn Mütter reden manchmal so. Aber dann sehe ich das Buch, das aus ihrer Tasche herausguckt. Irgendwas von „Familien-Marketing“ und „Spaß“ steht auf der Rückseite.

Der Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, scheint dabei keinen Spaß zu haben. Ich schaue die beiden an und die Mutter wechselt auf Spanisch. Möchte sie in Ruhe schimpfen, ohne verstanden zu werden? Spanisch ist zufällig meine Muttersprache und ich kapiere – leider – weiterhin alles. „Kauf mir das und kauf mir dies! Und was hast du heute nur gemacht?“ Schweigen. „Mmm?“ „Nerven“, sagt das Kind leise. „Genau! Nerven“, sagt die Mutter. „Und wie viele Punkte zählt das?“ Der Junge zeichnet mit den Finger eine Null. „Genau, null. Nur Minuspunkte kriegst du heute!“

Oje!, denke ich. Sie öffnet das Buch und liest. „Siehst du? Minuspunkte, sage ich doch!“ Ich bekomme langsam einen immer schwerer werdenden Stein im Bauch.

„Morgen muss du hart arbeiten, damit du das wiedergutmachen kannst!“

Ich versuche, dem Kleinen telepathisch etwas zu sagen. „Nimm das als Vorbereitungskurs für die Welt da draußen“, „nach Jahren der Therapie wird alles okay“, „keine Sorge, es geht auch anders!“ Solche Sachen.

Oder soll ich lieber die Mutter direkt ansprechen? Aber was sagen? „Ich finde, Sie sind eine schreckliche Mutter, und wenn wir schon von Punkten reden, Sie werden das später teuer bezahlen“?

Der M29 kommt und erlöst mich von meinem Dilemma. Wir steigen ein, die Mutter quatscht weiter ihrem Sohn ins Ohr. Der Junge guckt mich mit großen Augen an und nickt. Vielleicht empfing er doch meine Gedanken.

Ich nicke zurück.

Luciana Ferrando

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