vom liebreiz falscher dinge an falschen orten von JOACHIM FRISCH
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„Dunkelheit vertreibt nicht Dunkelheit. Das tut nur das Licht. Hass vertreibt nicht Hass. Das tut nur die Liebe.“ Wenn auch dereinst von Martin Luther King in die Welt gesetzt, einem der fraglos Guten der Geschichte, erzeugt ein solcher Satz in mir doch ein Gefühl, als hätte ich in eine ranzige Mozartkugel gebissen, wenn er denn auf Kalenderblättern oder Leinentaschen mit Batikmuster auftaucht, Hippiekitsch der staubigsten Art eben.

Gestern aber überkam mich angesichts des Aphorismus nicht Würgen, sondern Rührung. Es war der unpassende Ort, der mich milde stimmte, eine schmutzige Mauer im tiefsten Steilshoop, einer unwirtlichen Betonburg, Hamburgs sozialem Brennpunkt par excellence, wo man Motherfucker-Bitch-Graffiti erwartet, nicht aber sanftes Gesülze. Hier hat ein Mensch ein hohes Risiko auf sich genommen, seine Botschaft der Güte zu verbreiten. Man stelle sich nur vor, die Chef-Grandmaster-Gangsta-Rap-Gang des Distrikts hätte ihn in flagranti erwischt.

Ein unwirtlicher Platz, ein kitschiger Satz, doch eine Kombination mit Charme und Courage: Vielleicht ist ja das Schöne, Gute, Wahre oft nichts weiter als die falsche Sache am falschen Ort, einer negativen Dialektik von Ding und Ort folgend. Einen fragilen Liebreiz haben Dinge am falschen Ort allemal, ein Gummibärchen in der Presswurst, eine Piccoloflöte im Death-Metal, ein Kätzchen im Hundezwinger.

Womöglich liegt in dieser Diskrepanz eine neue subversive Hoffnung. Für den Betrachter mögen die Wohnschachteln in Steilshoop monoton wirken, die Bewohner aber leben in den denkbar unterschiedlichen Welten, sie empfangen über das weltweite Netz Musik aus Botswana, Gedichte aus Burkina Faso, schauen Fotos guatemaltekischer Modells, lesen Anleitungen zum Taggen, zum Unglücklichsein oder zum Bau von Molotowcocktails. Ästhetische Outputs dieser virtuellen Kakophonie sind dann, neben vielen doofen und langweiligen, auch solch liebenswert deplatzierte Graffiti wie das von der Dunkelheit und der Liebe.

Wie alles Deplatzierte rufen derartige geographisch-ästhetische Verschiebungen den ideellen Gesamtspießer auf den Plan. Instinktiv spürt er die Bedrohung seiner heilen Welt, sobald die Dinge ihre zugewiesenen Plätze verlassen, und wird hysterisch. So erklärt sich die Hysterie in der Graffiti-Frage, die von der CSU bis weit in die Reihen der Grünen reicht. Sie drückt die Angst vor der Expressivität sozial prekärer Schichten aus, die Orte des Wohnens und des Konsums unbefugt in Orte des Ausdrucks umwerten.

Wie die Dinge, so verändern auch Menschen mit dem Ort ihren Wert, nur ist der Mensch ein komplizierteres Ding als ein Graffito oder Gummibärchen. Dies musste ich erleben, nachdem das liebreizende Fräulein von Czarnowski mir einst eröffnet hatte, nur solche Männer zu begehren, die mindestens in Australien leben, weil die Sehnsucht der wahre Weg zur Liebe sei. Nach drei Monaten am anderen Ende der Welt kehrte ich zurück nach Hamburg, um zu erfahren, dass jenes Fräulein dies metaphorisch gemeint hatte. Versteh einer diese Welt, zumal die Welt des verarmten weiblichen polnischen Landadels.