Intervention: „Alternative zur Logik des Kunstmarkts“
Der Kunstverein Hildesheim versucht unter dem Vorsitz der Universität einen Neuanfang, um ein anderes Publikum, vor allem aber an Relevanz zu gewinnen
taz: Frau Hertzsch, Herr Page, im Kunstverein Hildesheim stellen Sie unter dem Titel „Neue Agenda?“ noch bis Ende Juni die Ergebnisse eines Kunstprojektes in Dresden vor. Warum?
Eva Hertzsch: Mit der Übernahme durch die Universität Hildesheim sucht der Kunstverein neue Orientierung und als wir gebeten wurden, die erste Ausstellung im Rahmen dieser Suche zu kuratieren, wollten wir ein ungewöhnliches Modell eines Kunstvereins zeigen.
Adam Page: Der von KünstlerInnen und Langzeitarbeitssuchenden gegründete Verein Idee 01239 in der Großsiedlung Dresden-Prohlis wurde nicht Kunstverein genannt, doch wurden dort zwischen 2007 und 2012 über zwanzig Projekte von zeitgenössischen bildenden KünstlerInnen durchgeführt. Die Mitglieder des Vereins Idee verstanden ihren Ort vordergründig als Produktionsort und nur zweitrangig als Ausstellungsort.
Wie muss man sich das vorstellen?
49, hat zusammen mit Eva Hertzsch im Jahr 2000 den „Info-Offspring-Kiosk“ in Dresden-Prohlis ins Leben gerufen, aus dem 2006 der Verein „Stadtteilforum IDEE 01239“ hervorging. Zurzeit arbeiten sie mit der AG Kunst im Untergrund an dem NGBK-Projekt „Mitte in der Pampa“ in Berlin-Hellersdorf.
51, lebt in Berlin und arbeitet seit 1997 mit Page zusammen. Mit ihren langfristig angelegten Vermittlungsprojekten im öffentlichen Raum wollen die beiden Zusammenhänge schaffen, in denen die Kunst verbindlicher wirken kann.
Page: KünstlerInnen und AnwohnerInnen haben mit künstlerischen Mitteln ein gemeinsames Arbeitsmodell als Alternative zur Logik des Kunstmarktes, zu Ausschlussmechanismen der Innenstadt und zum Regelwerk des zweiten Arbeitsmarktes der Agenda 2010 produziert. Dieser Blick auf die Schaffung von Milieu-übergreifender Kunstproduktion soll eine Alternative zum kuratierten White-Cube-Format der Kunstvereine sein.
Wie kam es zu dem Stadtteilforum in Prohlis und mit wem haben Sie dort zusammengearbeitet?
Hertzsch: Unter den Gründungsmitgliedern von Idee 01239 waren ein Bauarbeiter, ein Bibliothekar, eine Kellnerin, ein Musiker, eine Sekretärin, ein Spätkauf-Inhaber und einige KünstlerInnen, beziehungsweise Urbanisten. Alle wollten mit zeitgenössischer Kunst und Kultur einen toleranten, respektvollen und sozialen Raum im Stadtteil gestalten.
Page: Ein gemeinsamer Nenner der zum Teil durch Arbeitslosigkeit isolierten AnwohnerInnen und der aus zentralen Stadtteilen kommenden KünstlerInnen war die Bearbeitung ihrer eigenen Prekarität. Sie haben festgestellt, dass sie alle für 1,50 Euro die Stunde arbeiteten.
Was hat dieses Projekt mit Hildesheim zu tun, wo sowohl der Arbeitsmarkt als auch der Kunstbetrieb ganz anders funktionieren?
Hertzsch: Idee 01239 ist als Fallstudie für den Kunstverein Hildesheim und für die Studierenden unseres Uni-Seminars „Kunst im sozialen Raum“ gedacht. Die Auswirkungen der Arbeitsmarktpolitik tragen nicht nur Langzeitarbeitssuchende in den neuen Bundesländern, sondern auch die Aufstocker des ehemaligen Mittelstands in Niedersachsen. Wie Idee damals bekommt auch der Kunstverein Hildesheim keine institutionelle Förderung. Die Fördertöpfe der Kulturverwaltungen und ‑stiftungen reichen kaum für ein Jahresprogramm. Der Kunstverein wird auch darauf angewiesen sein, Konzepte in anderen gestalterischen Feldern der Gesellschaft zu entwickeln, etwa in der politischen Bildung oder der Stadtentwicklung.
Sie zeigen Arbeiten von und mit Langzeitarbeitslosen. Ist es nicht voyeuristisch, diese in das Korsett einer Sammelausstellung für das gängige Kulturpublikum zu pressen?
Page: Das Zielpublikum ist nicht das übliche Ausstellungspublikum. Wir sind bewusst den kostenlosen Stadtzeitungen hinterher und nicht den Feuilletons. Unsere Flyer legen wir eher beim Metzger aus, anstatt im Stadttheater. Und für die Gesprächsrunden über die Zukunft des Kunstvereins haben wir das Rathausfoyer als offenen Ort für jeden gewählt und bewusst Nachbarschaftsinitiativen und nicht die Kulturverwaltung als Gastredner eingeladen. Die nächste Gesprächsrunde machen wir mitten in der Fußgängerzone in der Nähe des Hauptbahnhofs.
Müsste die Schwelle für solche partizipativen Pprojekte nicht niedriger liegen? Wie können KünstlerInnen und KuratorInnen versuchen, ein anderes Publikum anzuziehen?
Hertzsch: Die Idee-Projekte fanden auf der Straße, in einer Shoppingmall, in einer Schule und im Vereinshaus, einem leerstehenden, umgestalteten Getränkemarkt statt. Wenn diese Projekte in einer Kunstinstitution dokumentiert werden, wird dieser künstlerischen Praxis ein höherer Stellenwert verliehen. Es handelt sich nicht, wie in der Hochkultur öfters verallgemeinert, um Sozialarbeit, sondern um eine Erweiterung des Kunstbegriffs im öffentlichen Raum: weg von Zufallspassanten, hin zum Aufbau verbindlicher Beziehungen mit Verbündeten in der Gesellschaft.
Page: So können die KünstlerInnen ihr Netzwerk, ihre ästhetischen Kompetenzen und ihren Zugang zu Entscheidungsträgern, Planern und Presse teilen, um sich für ein gemeinsames Interesse stark zu machen. Diese Praxis will die Ausstellung reflektieren.
Der enge Kehrwiederturm mit seinen vielen Stufen ist denkbar ungünstig für zeitgenössische Kunst, die oftmals sperrig daherkommt. Müsste sie nicht langfristig aus diesem symbolträchtigen Elfenbeinturm geholt und unters Volk gebracht werden?
Hertzsch: Sicherlich. Die letzte Ausstellung fand schon in einem leerstehenden Laden statt. Für einen Teil der „Neue-Agenda“-Ausstellung wollten wir in ein Geschäft in der Fußgängerzone einziehen, aber die Immobilienabteilung von TUI hatte keine Zeit, sich um die Verträge zu kümmern. Eigentlich müsste der Einzelhandel in den Innenstädten alles tun, auch hundertprozentigen Mieterlass gewähren, um die Neubelebung von Leerstand durch künstlerische Projekte zu ermöglichen.
Wie kann der Hildesheimer Kunstverein ein größeres und vielfältigeres Publikum erreichen und dadurch für die Stadt relevanter werden?
Hertzsch: Die Studierenden Anne Garthe, Julien Rathje, Sarah Kaiser und Sarah Kepski organisieren ein Begleitprogramm von vier Gesprächsrunden zum Thema Kunst, Vernetzung und Stadtgestaltung. Sie verlassen damit bewusst den Kehrwiederturm und gehen an zwei zentrale Orte der Demokratie: ins Rathaus und den öffentlichen Raum. Dorthin laden wir lokale Initiativen ein, über ihre Erfahrungen und Wünsche in Bezug auf Kulturarbeit in der Stadt zu berichten. So erhoffen wir uns, Interessenlagen herauszuarbeiten, die später die Schwerpunkte für Projekte des Kunstvereins werden.
Page: In erster Linie geht es darum, Beziehungen aufzubauen und nicht eine große Besuchermenge zu generieren. So kann der Kunstverein zu einem Ort der Beteiligung und Produktion werden. Nicht im Sinn einer Mitmach-Ausstellung, sondern als Thinktank mit verbindlichen PartnerInnen.
Welchen Eindruck haben Sie von der Hildesheimer Kulturlandschaft? Werden Sie die Verbindung aufrechterhalten, womöglich mit weiteren Seminaren oder Ausstellungen?
Page: Die zeitgenössische Bildende Kunst ist in Hildesheim unterrepräsentiert. Hier könnte der Kunstverein eine wichtige Rolle für die Stadt spielen, auch angesichts Hildesheims Antrag, Europäische Kulturhauptstadt 2025 werden zu wollen. Unsere Praxis setzt auf Langfristigkeit, aber wir wissen noch nicht, ob wir wieder eingeladen werden.
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