Wahrhaft der Größte: Muhammad Ali 1966 in Chicago Foto: Thomas Hoepker/Magnum Photos/Agentur Focus

Das Weltkulturerbe

NACHRUF Muhammad Ali war viel mehr als ein großer Sportler. Er war politischer Kämpfer, provozierendes Großmaul, positiver Versöhner – und er bleibt der Nenner, auf den sich alle Menschen einigen können

von Bernd Pickert

Wann genau war eigentlich der Moment, in dem der Boxer Muhammad Ali unsterblich wurde? War das schon 1960, als der damals gerade 18-Jährige in Rom die olympische Goldmedaille im Halbschwergewicht gewann? War das, als er 1964 im ersten Kampf gegen Sonny Liston der bis dahin jüngste Schwergewichtsmeister der Geschichte wurde? In den bis heute legendären drei Kämpfen gegen Joe Frazier? Oder im „Rumble in the Jungle“ gegen George Foreman 1974 in Zaire? Für Abertausende Babyboomer in Deutschland, einschließlich des Autors, war das das zweite Mal nach der Mondlandung, dass sie von ihren Eltern mitten in der Nacht geweckt und vor den Fernseher gezogen wurden.

Oder ist Ali gar nicht deshalb The Greatest Of All Time, weil er so ein guter Boxer war, sondern wegen alldem, was außerhalb des Rings geschah? Ali war der perfekte Entertainer und der Traum jedes Promoters. Selbstbewusst, schlagfertig, humorvoll – und ein bildhübscher junger Mann, der jederzeit das bezauberndste Lächeln einzustreuen vermochte, das je im Gesicht eines Sportlers gesehen wurde. Seine Gedichte, mit denen er den Kampfverlauf vorhersagte oder im Nachhinein kommentierte. Sein Chorus „Float like a butterfly, sting like a bee“ (Fliege wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene), seine Scherze „Ich bin so schnell, letzte Nacht hab ich im Hotelzimmer das Licht ausgeknipst und war im Bett, bevor es dunkel wurde“, sein markantes „Ich bin der größte aller Zeiten“ – besser kann man Boxkämpfe nicht vermarkten.

Abgeschaut vom Wrestling

Ali erzählte später, dass er sich die Art, seine Person und damit auch seine Kämpfe zu verkaufen, von dem Wrestler Gorgeous George abgeschaut hatte. Seit Ali gehört „Trashtalking“ im Kampfsport zum normalen Geschäft, doch noch nie war „oft kopiert und nie erreicht“ so wahr – Ali beherrschte das Geschäft mit einer Perfektion, die seither niemand mehr erreicht hat.

Vor allem aber: Ali hatte etwas zu sagen. Als er 1967 mit den berühmten Worten, er werde „nicht 10.000 Meilen von zu Hause entfernt helfen, eine andere arme Nation zu ermorden und niederzubrennen, nur um die Vorherrschaft weißer Sklavenherren über die dunkleren Völker der Welt sichern zu helfen“, den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte, verlor er seine Boxlizenz und seinen Weltmeistertitel und wurde zu fünf Jahren Haft und 10.000 Dollar Strafe verurteilt.

Schon drei Jahre zuvor hatte er seine Konvertierung zum Islam bekannt gegeben, sich der Nation of Islam angeschlossen, seinen „Sklavennamen“ Cassius Clay abgelegt und sich in Muhammad Ali umbenannt. Seine Interviews mit dem – weißen – TV-Moderator Al Parkinson können bis heute bedenkenlos in jedem antirassistischen Trainingskurs gezeigt werden, wenn Weiße verstehen wollen, woher die Denkrichtung der „Critical Whiteness“ kommt.

Ali wurde zum prominentesten Mitstreiter von Malcolm X und der radikalen Black-Muslim-Bewegung jener Zeit. In zahlreichen Interviews – Ali durfte nicht boxen, auch wenn die Verurteilung später aufgehoben wurde, und widmete sich dem Predigen der Lehre des Nation-of-Islam-Führers Elijah Muhammad – erklärte er, warum Schwarze und Weiße nicht zusammengehörten, und forderte Land auf dem Gebiet der USA „oder woanders“, wo Schwarze ihre eigene Gesellschaft aufbauen könnten. Schwarze und Weiße sollten sich nicht vermischen, erklärte er, das sei Verrat an der eigenen Herkunft, da habe George Wallace recht. Wallace war der rassistische Gouverneur von Alabama, der jahrelang den Schwarzen das Wahlrecht entzogen hatte, den Zugang Schwarzer zur Universität verhinderte und die Bürgerrechtler um Martin Luther King bei der Brücke von Selma von der Polizei hatte zusammenschlagen lassen.

Ali verlor drei Jahre seiner Karriere. Zu dieser Zeit sprach er davon, sich gegen das Boxen „entschieden“ zu haben.

Das war natürlich Quatsch. Ali wollte boxen, durfte aber nicht. Als ihm die Lizenz 1970 wiedergegeben wurde, stieg er erneut in den Ring, und nach zwei K.-o.-Siegen innerhalb von nur zwei Monaten kam es im März 1971 zum ersten Titelkampf gegen Joe Frazier. Es wurde eine Schlacht über 15 Runden, die Ali einstimmig nach Punkten verlor.

Boxerisch musste er ganz von vorn anfangen, um erneut das Recht auf einen Titelkampf zu bekommen. Er siegte zehnmal in Folge, viermal nach Punkten, sechsmal durch K. o. Alle anderen möglichen Titelherausforderer hatte er nun geschlagen. 1973 hatte George Foreman sich mit einem K.-o.-Sieg in der zweiten Runde den Titel von Frazier geholt. Kurz danach besiegte auch Ali den Konkurrenten Joe Frazier, und so kam es im Oktober 1974 – mehr als zehn Jahre nachdem Ali zum ersten Mal Weltmeister geworden war – zum wahrscheinlich bestvermarkteten Boxkampf der Geschichte: dem „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa, der Hauptstadt des damaligen Zaire. Der Kampf, den Ali spektakulär gewann, inspirierte Schriftsteller wie Norman Mailer und Joyce Carol Oates zu Essays, begeisterte die ganze Welt und ist in Leon Gusts einzigartigem Dokumentarfilm „When We Were Kings“ auf alle Ewigkeit nachzuvollziehen. Dass der Film erst 22 Jahre später fertiggestellt wurde und dann auch noch den Oscar als beste Dokumentation gewann, gehört mit zur Ali-Saga.

Es folgte 1975 der „Thrilla in Manila“, Alis dritter Kampf gegen Frazier. Viele meinen bis heute, dass die Schlacht, die sich die Boxer lieferten, beide für den Rest ihres Lebens veränderte. Ali gewann in der 14. Runde durch Aufgabe seines Gegners und sagte danach, er habe sich noch nie dem Tode so nahe gefühlt. Aber er blieb Weltmeister. 1978 verlor er den Titel gegen Leon Spinks, gewann ihn aber im Rückkampf nur fünf Monate später zurück. Spätestens da hätte er aufhören sollen. Seine letzten beiden Kämpfe verlor er klar, die Boxkarriere war vorüber. Es war 1981, Ali war 38. Einen Champion wie ihn sollte es in der Geschichte des Schwergewichts­boxens nie wieder geben.

„Ich werde nicht 10.000 Meilen von zu Hause entfernt helfen, eine andere arme Nation zu ermorden und niederzubrennen, nur um die Vorherrschaft weißer Sklavenherren über die dunkleren Völker der Welt sichern zu helfen“

Muhammad Ali begründet 1967 seine Kriegsdienstverweigerung

Aber Ali blieb die öffentliche Figur, die er seit den 60er Jahren geworden war. 1975 hatte er sich von der Nation of Islam losgesagt und war zum sunnitischen Islam konvertiert. Er trat weniger provokativ auf, investierte aber Zeit und Geld in Charity-Organisationen und reiste im Einsatz für die Bürgerrechte um die Welt. 1984 dann die Diagnose: Ali war an Parkinson erkrankt. Sein Verstand funktionierte so klar wie immer, aber er konnte immer weniger sprechen, seine Arme zitterten unkontrolliert, sein Äußeres veränderte sich.

Hatten sich noch 1967 viele, insbesondere weiße US-Amerikaner wegen seiner Gegnerschaft zum Vietnamkrieg von ihm abgewandt, war er in den 70ern durch seine sportlichen Erfolge wieder eingemeindet worden. Doch die endgültige Anerkennung als einer der größten, wenn nicht der größte US-Athlet aller Zeiten, war ihm versagt geblieben. Die kam 1996, als Ali zur Überraschung der Öffentlichkeit bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Atlanta das Olympische Feuer entzündete. Im Stadion brandete Jubel auf, als die Menge ihn erkannte, wie er da oben stand: zitternd, aber stolz und sichtlich bewegt. Es ist dieser Moment, nicht die Freiheitsmedaille, die ihm Jahre später George W. Bush verlieh, der verdeutlichte: Ali war zum US-amerikanischen Nationalhelden geworden.

Das zeigte sich auch nach Bekanntwerden von Alis Tod am Freitagabend. Präsident Barack Obama würdigte Ali als einen „Mann, der für das gekämpft hat, was richtig war. Er hat für uns gekämpft.“ Ex-Präsident Bill Clinton erklärte, „Hillary und ich sind tieftraurig“, und selbst Hillary Clintons republikanischer Gegenspieler Donald Trump nannte Ali einen „wahrhaft großartigen Champion und wunderbaren Kerl“.

Heute feiern ihn alle

Wie sein Verehrer und Freund Nelson Mandela ist auch Muhammad Ali noch zu Lebzeiten so etwas wie ein Weltkulturerbe geworden, von dem alle ein Stück abhaben wollen. Noch nach dem Gewinn der Goldmedaille 1960 war dem Olympiasieger im Hauptstraßen-Diner seiner segregierten Heimatstadt Louisville im Bundesstaat Kentucky der Zugang verweigert worden. Heute feiert ihn alle Welt. Das kann man verlogen finden. Positiv, wie Ali die Welt sehen wollte, hätte ihn das gefreut.