piwik no script img

sozialkundeSchläfrigkeit ist eine Bedrohung moderner Produktion – deshalb entdecken Arbeitgeber das strategische Schläfchen

Viele Forschungsinstitute beschäftigen sich derzeit mit dem Mittagsschlaf am Arbeitsplatz – ausdrücklich, um ihn zu fördern

Der Kapitalismus, das hat sich inzwischen herumgesprochen, ist spätestens mit der inzwischen wieder abgeflauten New Economy der 1990er-Jahre in eine neue Phase getreten. Es gibt Dutzende von Phänomenen, an denen sich das zeigen lässt. Manchmal freilich schießt das ganze Drama der Umstellung auf neue Produktionsverhältnisse in einem einzigen Phänomen zusammen.

Es gibt einen weltweiten Trend, so liest man in einem Aufsatz von Vern Baxter und Steve Kroll-Smith, zwei Soziologieprofessoren an den Universitäten von New Orleans beziehungsweise von North Carolina, im ersten Heft des aktuellen Jahrgangs der Zeitschrift Current Sociology, zu immer mehr Schlaf am Arbeitsplatz. Wissenschaftliche Forschungsinstitute und Beratungsinstitute mit Namen wie Alertness Solutions, Circadian Technologies und The Napping Company, so berichten sie in ihrem Aufsatz „Normalizing the Workplace Nap“, beschäftigen sich mit diesem Phänomen, aber nicht, um ihm Einhalt zu gebieten, sondern um es zu fördern.

Arbeiter und Angestellte, Manager und Hilfskräfte nutzen die Arbeitszeit, um sich auszuruhen! Und wir reden hier nicht von der spanischen Siesta oder dem chinesischen Xiuixi, die sich ganz im Gegenteil auf dem Rückzug befinden, weil sie als unmodern gelten. Sondern wir reden von dem, was den Namen des strategic napping erhalten hat, weil es mittlerweile als eine der wenigen Möglichkeiten gilt, große Unfälle wie jenen der Exxon Valdez, von Three Mile Island, von Bhopal oder des Challenger zu verhindern, die, wie man hier nebenbei erfährt, als Unfälle gelten, an denen die Schläfrigkeit der Verantwortlichen zumindest mitschuldig ist.

Gipfelte die Disziplinierungsgeschichte der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts unter anderem darin, den Arbeitskräften jede Chance zu nehmen, den Arbeitgeber dadurch um seinen wohlverdienten Mehrwert zu bringen, dass man die Arbeitszeit für kleine Schläfchen nutzte, in den lauschigeren Ecken der Werkstätten und Fabriken wie einst im Schatten der Bäume am Rande des zu bestellenden Feldes, so lautet die Devise heute, seinen Arbeitsplatz auch dadurch zu sichern, dass man dem Angebot des Arbeitgebers folgt, sich zwischendurch und am Arbeitsplatz, meist in eigens dafür eingerichteten napping rooms, den konzentrierten Pausenschlaf zu gönnen.

War früher die „Müdigkeit“ etwas, was man nur zu Hause wieder los wurde, indem man sich vernünftig ausschlief, um dann ausgeruht wieder am Arbeitsplatz zu erscheinen, so gilt das Interesse der Programme des alertness management heute der „Schläfrigkeit“ als der größten Bedrohung technisch, ökologisch und kulturell sensibler Produktionsprozesse, in denen es bekanntlich auf einen Typ von Aufmerksamkeit ankommt, dem auch die unscheinbarsten Differenzen nicht entgehen dürfen. Wer hier schläfrig wird, befindet sich schon auf halbem Weg zur Sabotage.

Aber die Konsequenzen sind gewaltig. Nicht nur muss man sich mit ganz neuen Vokabeln beschäftigen, um die negative Selektion der Müdigkeit (fatigue) von der positiven Bearbeitung der Schläfrigkeit (drowsiness) unterscheiden zu können. Sondern man wird auch mit der Zumutung konfrontiert, dass sich der Arbeitgeber plötzlich für die Schlafgewohnheiten seiner Angestellten interessiert.

Schon früher lag es im Interesse von Personalverantwortlichen und Sicherheitsbeauftragten, im Auge zu behalten, ob jemand durch dauernden Ehestreit, ungesunden Lebenswandel oder durch Mehrfachjobs laufend so übermüdet ist, dass er zur Gefährdung für sich und andere wird. Aber heute geht es darüber hinaus darum, ob und wie und wo sich jemand gezielt und konzentriert erholen kann.

Solch eine Nachfrage hätte noch vor kurzem die von der Organisationstheorie so genannte Indifferenzzone (Chester I. Barnard) verletzt, die angibt, welche Zumutungen des Arbeitgebers man sich im Rahmen der „Pauschalunterwerfung gegen Lohn“ (Niklas Luhmann) gefallen lässt und welche nicht: Arbeitsanweisungen ja, Zurichtungen psychischer und organischer Befindlichkeiten nein, wäre da ganz sicher die Devise gewesen.

Aber jetzt tut man mit das Privateste, was man tun kann, nämlich Schlafen, auch dort, wo es überwacht und funktionalisiert wird. Und man denkt sich nichts dabei, sondern abstrahiert auch diese persönlichste Eigenschaft zu einem Produktivfaktor, an der der Arbeitgeber ein ganz natürliches Interesse hat, und zwar ein Interesse, das man teilt, weil man diesen Arbeitsplatz behalten und durch die Fähigkeit zu strategischen Mittagsschläfchen seine Zuverlässigkeit und damit seine Karrierechancen verbessern will.

DIRK BAECKER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen