Zusammenhalt statt Aufbruch

Grün-Schwarz Kretschmann stellt das Programm seiner Regierung vor

Wie viel Grün steckt in dieser „bürgerlichen Koalition“?

STUTTGART taz | Es klang über weite Strecken wie eine Rede an die Nation. Die Regierungserklärung, die Winfried Kretschmann gestern vor dem Stuttgarter Landtag hielt, bestand neben den Pflichtübungen aus dem Regierungsprogramm vor allem in flammenden Appellen für Weltoffenheit und den Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Ohne die AfD zu nennen, die als stärkste Oppositionsfraktion im neuen Landtag von Baden-Württemberg sitzt, wandte sich Kretschmann gegen eine „Brutalisierung der Sprache“, Na­tionalismus, Chauvinismus und die „Hetze gegen Minderheiten“. Die Integration von Flüchtlingen nannte er eine „entscheidende Aufgabe für die Zukunft unseres Landes“. Es gebe „keine Pflicht zu Assimilation“, wohl aber zur Inte­gration. Kretschmann stellte wie schon im Wahlkampf diese Fragen in einen euro­päischen Zusammenhang. Die Fliehkräfte in Europa erfüllten ihn mit Sorge, sagte der Ministerpräsident. Man müsse erkennen, dass rechtsnationale Parteien ein internationales Phänomen seien. Er forderte die proeurpäischen Parteien auf, sich gegen diese Tendenzen „zu verbünden“.

Kretschmanns Pathos überdeckt allerdings den grauen landespolitischen Alltag. Da strahlt die grün-schwarze Pflichtkoalition, anders als die grün-rote Vorgängerregierung, schon jetzt weniger Aufbruch aus als mühsamen Zusammenhalt. Was man auch daran sehen konnte, dass viele CDU-Abgeordnete ­ihrem Ministerpräsidenten allenfalls pflichtschuldig applaudierten.

Wie viel Grün steckt in dieser „bürgerlichen Koalition“, wie Kretschmann sie nannte? Der Regierungschef stellte seine neue Regierung zwar in die Tradition von Lothar Späth und Erwin Teufel, betonte aber, dass wichtige Reformen der grün-roten Regierung fortgeführt würden. So bleibt es im Land bei den Gemeinschaftsschulen, für die in der Vorgängerkoalition vor allem die SPD gestritten hatte.

Mit der neuen Kultusministerin Susanne Eisenmann von der CDU hat Kretschmann tatsächlich eine Vertreterin einer liberalen Schulpolitik im Kabinett, die sich sowohl zu Gemeinschaftsschule als auch zum von konservativer Seite heftig bekämpften Bildungsplan bekennt.

In der Energiepolitik kündigte Kretschmann gestern den Ausbau der Windkraft sowie ein „50.000-Dächer-Programm“ an, von dem nicht nur Hausbesitzer, sondern auch Mieter profitieren sollten. Zudem versprach er ressortübergreifende Anstrengungen zur Digitalisierung von Wirtschaft, Verwaltung, Schule und Universitäten.

Kritik erregte bereits in den letzten Tagen die Personalpolitik der neuen Regierung. Zwei hohe politische Beamte verlieren nach dem Regierungswechsel ihren Posten, offenbar weil sie das falsche Parteibuch besitzen. Kretschmann hatte gestern erklärt, der Stuttgarter Regierungspräsident Johannes Schmalzl (FDP) werde durch den ehemaligen Amtschef im Landwirtschaftsministerium, Wolfgang Reimer (Grüne), ersetzt. Der Tübinger Regierungspräsident Jörg Schmidt (SPD) wird von Klaus Tappeser (CDU) abgelöst, der schon fünf Jahre Beamter im einstweiligen Ruhestand war. SPD und FDP kritisierten die Abberufungen als willkürlich und teuer. Im Tübinger Regierungspräsidium sammelte man sogar Unterschriften gegen die Abberufung Schmidts. Schmidt selbst will sie vor Gericht anfechten. Benno Stieber