Kommentar
: Präventive Unterdrückung

Mit der „Abwehr“ von Gefahren lässt sich jeder polizeiliche Eingriff rechtfertigen. Dabei ist Prävention von Verbrechen ein nur vermeintlich fortschrittlicher Gedanke

Sündenfall des Kriminalrechts

Mit Prävention lässt sich alles rechtfertigen, die Grenzenlosigkeit in der Überwachung ist gefährlich

MICHAEL JASCH, PROFESSOR AN DER NIEDERSÄCHSISCHEN POLIZEIAKADEMIE

Prävention im Zusammenhang mit Straftaten klingt vernünftig, sanft und fortschrittlich. Das Gegenteil ist der Fall. Mit Astrid O. wurde innerhalb der letzten anderthalb Jahre die dritte verdeckt agierende Polizistin in der Hamburger linken Szene enttarnt. Ihr Einsatz wurde polizeilich mit „Gefahrenabwehr“ legitimiert, erklärte die Hamburger Innenbehörde der taz. „Gefahrenabwehr“ war es auch, die den vierjährigen Einsatz der verdeckten Ermittlerin Maria B. bis 2012 rechtfertigen sollte und auf „Gefahrenabwehr“ wurde sich von Anfang an berufen, um Iris P. von 2001 bis 2006 verdeckt die „Lage“ in der Roten Flora beurteilen zu lassen.

Jenseits der bekannt gewordenen Rechtsbrüche, die dem Instrument des verdeckten Einsatzes wohl immanent sind, lohnt ein Blick auf die präventive Polizeiarbeit, mit der aus eben jenem Grund der „Gefahrenabwehr“ weitreichende Eingriffe gerechtfertigt werden. Wie drohend kann eine Gefahr sein, die über vier, sechs, sieben Jahre nicht eintritt?

Anders als Ermittlungen der Polizei nach einer Tat, die den Regeln der Strafprozessordnung unterliegen, macht Einsätze unter Berufung auf die „Gefahrenabwehr“ aus, dass überhaupt noch keine Straftat passiert ist. Die Polizei ist präventiv und vor der Tat im Einsatz.

Dass BürgerInnen Polizeimaßnahmen zugemutet werden, obwohl kein Verbrechen begangen wurde, ist mindestens im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bedenklich, die einen Rechtsstaat von einem Polizeistaat unterscheidbar macht. Auch im Bezug auf die Grenzen dieser Eingriffe ist die Gesetzeslage paradox: Während es etwa für eine verdeckte Ermittlung nach Straftaten laut Strafprozessordnung den Beschluss eines Richters braucht – der überprüft, ob dies, in Abwägung der Grundrechte eines Menschen, gerechtfertigt ist – bedarf der Einsatz eines verdeckten Ermittlers auf Grundlage der Gefahrenabwehr bloß der Zustimmung der Staatsanwaltschaft – wohlgemerkt: obwohl überhaupt noch nichts passiert ist.

Ein Problem, das mittlerweile auch innerhalb der Polizei erkannt wird. Unter anderem fordert der Hamburger Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Jan Reinecke, fortan Gerichten die Entscheidung über verdeckte Ermittlungen zu überlassen.

Gleichwohl ist die Abwehr der „Gefahr“ als Rechtfertigungsgrund längst nicht auf verdeckte Operationen beschränkt: Unterbindungsgewahrsam, Gefährderansprachen, Observationen, verdachtsunabhängige Kontrollen an Gefahrenorten oder öffentliche Videoüberwachung; dass eine „Gefahr“ lauert, lässt sich fast immer konstruieren.

Seit Ende der 1980er bestimme Prävention verstärkt die polizeiliche Arbeit, erklärt Michael Jasch, Professor für Strafrecht an der Polizeiakademie Niedersachsen. „Dieses Paradigma hat sich als massive Ausweitung der polizeilichen Befugnisse in den Gefahrenabwehrgesetzen der Länder niedergeschlagen.“ Der Einzug der Prävention ins Kriminalrecht sei mal der „klugen Einsicht“ gefolgt, „mit Strafe viel mehr Schaden anzurichten als Gutes zu tun“, so Jasch. Auch ökonomische Gründe spielten eine Rolle: „Strafvollzug kostet den Staat viel Geld, Präventionsarbeit lässt sich vergesellschaften.“ Der Gedanke der Kriminalprävention tauchte in der Sozialarbeit auf, in der Pädagogik oder der Stadtentwicklung.

Prävention klinge gut, sagt Jasch, sei aber „der größte Sündenfall des Kriminalrechts der letzten Jahrzehnte“. Mit Prävention lasse sich alles rechtfertigen. „Die Grenzenlosigkeit vor allem in der ausgedehnten Überwachung ist gefährlich.“

Vom „Selbstbedienungsgeschäft der Polizei“ spricht der Strafverteidiger Helmut Pollähne, Dozent im Fachbereich Rechtswissenschaften an der Uni Bremen. Die Erweiterung der polizeilichen Zuständigkeiten in Richtung Prävention ginge mit einer Überschneidung in den nachrichtendienstlichen Bereich einher. Gleichzeitig fehle es an rechtsstaatlicher Begrenzung: „Es gibt eine Unschuldsvermutung, aber keine Ungefährlichkeitsvermutung“, sagt er und sieht eine Gefahr für den Rechtsstaat.

Die relative Beliebigkeit polizeilicher Eingriffe führt zu einer Ausweitung der sozialen Kontrolle – und damit autoritärer Strukturen: Wer nicht weiß, wann, was oder ob er überwacht wird, schreckt davor zurück, seine Grundrechte auszuüben. Im Fall der Roten Flora zielt die polizeiliche Prävention somit auf Unterdrückung der linken Opposition. Jean-Philipp Baeck