EKSTASE Kicks und Jabs und Maschendraht: Um zwei Kämpfer der Mixed Martial Arts dreht sich Kerry Howleys Langessay „Geworfen“
: Kein Ich, kein Leib mehr

Um den MMA-Kämpfer Erik Koch (hinten) geht es in „Geworfen“ Foto: F.: imago

von Sophie Jung

Der Intellekt ist außer Kraft gesetzt. Der Körper löst sich auf. Alle Sinne spitzen sich auf diesen einen Moment zu: Sean steht im Oktogon, umzäunt von einem 1,80 Meter hohen Maschendraht, und über drei blutige Runden drückt ihm „The Fire“ mit katzengleicher Technik Jabs – als „Jab“ bezeichnet man eine linke Gerade – und Kicks in das schwerfällige Fleisch. Sie ist gebannt von dem Schauspiel, spürt kein Ich und keinen Leib mehr, nur diese plötzliche Geworfenheit in einen anderen Seinszustand.

„Geworfen“ ist entsprechend auch der Titel dieses irgendwie seltsamen Buches. Über 340 Seiten dehnt die US-amerikanische Autorin Kerry Howley eine Reportage, in der sie viele Sehnen reißen und Knochen brechen lässt. Verstrickt mit einem Hauch Fiktion ist „Geworfen“ auch ein sehr intelligentes und nachdenkliches Buch über eine junge Intellektuelle, die vor der Vergeistigung der Akademie in die Ekstase einer ultraharten Kampfsportart flieht: Mixed Martial Arts ist eine Verbindung von Schlag-, Tritt- – und Ringtechniken. Boxen, Muay Thai, Karate oder brasilianisches Jiu-Jitsu fließen in diesem brutalen Sport zusammen, der in den USA seit den Neunzigern zu einem Kult wurde und in Deutschland einige Jahre über mit einem Sendeverbot belegt war.

Auf ihrer Suche nach Momenten der Ichlosigkeit findet die Philosophin eine neue Bestimmung: „Ich selbst bin weder eine Kämpferin noch ein Fan, noch ein Schatten, noch ein Groupie (…). Ich gehöre zu jener Spezies kämpferischer Appendizes, die als ‚Platzfüller‘ bezeichnet werden; das heißt, wenn die Kämpfer den Käfig verlassen, in dem sie autark sind, und auf die Straße hinausgehen, auf der sie es nicht sind, ich das bin, was den gestandenen Kämpfer vom gemeinen Schläger unterscheidet.“

Sie braucht die Kämpfer also als ekstasewürdiges Objekt und umgekehrt brauchen die Kämpfer sie, weil nur die Entourage ihnen ihren Status verleiht. So begibt sich die junge Frau als Platzfüllerin in die Welt von ambitionierten Jungs, die in Vorortkellern ihre noch unbescholtenen Körper für die großen MMA-Kämpfe in Las Vegas formen, und der ernüchterten Männer, die sich für ein paar Dollar in der Lagerhalle eines Gebrauchtwagenhändlers noch mehr Wülste in ihre Blumenkohlohren brechen lassen.

In ihr wächst eine tiefe Bewunderung für die Figurdes Kämpfers

Zwei Kämpfer faszinieren sie. Erik Koch ist der aufstrebende der beiden, er scheint „fast nur aus geschmeidigen, porzellanweißen Gliedmaßen zu bestehen“. Sean Hufman ist der im Niedergang begriffene: „Schlag um Schlag steckte Sean ein“, beschreibt sie die erste Begegnung, „und mit jedem punktgenau gesetzten Treffer auf seinen Mund wuchs Seans Lächeln, als würde sein Gegner es ihm ins Gesicht meißeln“.

Kerry Howleys „Geworfen“ ist wie ein Essay in Romanlänge. Sean und Erik gibt es wirklich, man kann sich die Anmut des einen und das zerschundene Konterfei des anderen bei YouTube ansehen.

Mit Reportagen über Löwen schießende US-Touristinnen in Afrika und Highschool-Direktoren, die sich im konservativen Midwest für die Homo-Ehe einsetzen, hat sich Autorin Howley sich bereits zuvor in die amerikanische Psyche vorgewagt. Für „Geworfen“ nahm sie Kontakt mit den zwei Kämpfern aus Iowa auf und rückt nahe an sie heran. Gleichsam zeichnet sie das Porträt einer ganzen Szene der Mixed Martial Arts in den USA. 2014 im Original erschienen, hat ihn Simone Jakob nun ins Deutsche übersetzt.

Metallica-Fanfaren

Eine semifiktionale Erzählerin – man erfährt kaum etwas über die namenlose Doktorandin – lässt Howley auf zwei Jahre als Begleiterin von Sean und Erik zurückblicken. In ihre kraftvollen Beobachtungen und philosophischen Räsonnements fließen Figuren wie der legendäre Pat Miletich („The Croatian Sensation“), der in den 90ern eine Riege an MMA-Kämpfern hochzüchtete oder Requisiten wie Metallica-Fanfaren und Nummerngirls ein. Doch sie ist auch jenseits der Kampfarena dabei: Boxställe bei 40 Grad Schweißhitze, Türsteherrangeleien, zeternde Ex-Affären oder die bittere Konkurrenz zwischen Erik und seinem Bruder Keonie sind unweigerliche Szenen für eine Platzfüllerin.

Einerseits begegnet die Erzählerin den Kämpfern mit analytischer Distanz, andererseits ist sie eingebunden in den Fortgang der Ereignisse. Die Narration folgt ihrem Streben nach dem ästhetischen Erlebnis. Doch immer seltener wird sie vorm Oktogon in jenen auflösenden Zustand „geworfen“. Auch Erik, der zwar vor Millionenpublikum siegen wird, aber seine technische Eleganz einbüßt, und Sean, dessen plötzliche Vaterschaft ihn zu einem geregelten Pizzabäckerdasein läutert, nimmt die Erzählerin zunehmend mit einem Gefühl des Verlusts war. Der Rausch des Kampfes ebbt ab. Für die Figur des Kämpfers, die „ekstatische Jägerseele“, aber wächst in ihr eine tiefe Bewunderung heran.

Kerry Howley: „Geworfen“. Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob. Ullstein Verlag 2016, 336 Seiten, 16,99 Euro